Kapitel 19 - Glasscherben

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Es war dunkel und kalt, eigentlich eine ideale Nacht. Nur noch einige Sterne beleuchteten den Himmel und die Erde unter meinen Füßen. Es roch nach Staub, Schimmel, Moose und...und nach Tod.

Ich hob meinen rechten Arm in die Luft und die Statue fing an sich langsam nach hinten zu bewegen. Nach einigen kleinen Schritten schloss ich die frostige Zementtür hinter mir und dachte für einen Moment, dass das mein Gewissen erleichtern wird. Dass ich zumindest die heutige drückende Nacht als abgeschlossen betrachten kann.

Doch die Stille...die düstere Stille tat meinen Ohren weh, genauso sehr, wie das getrocknete Blut meine Haut brannte. Mir war es warm, aber gleichzeitig zitterte ich auch. Meine erschwerte Atmung wurde nur noch leidvoller. Ich war müde, ausgelaugt und kraftlos. Sogar die zwei kleinen Schnipsel fielen mir schwerer als gedacht.

Meine Fingernägel waren verfärbt, den dunkelbraunen Ton konnte man auch unter meinem schwarzen Nagellack erkennen. Doch ich sah es erst, als ich nach der Türklinke meines Zimmers griff.

Ich zog meine Hand zurück und starrte auf den Schmutz und auf Tyler zwischen meinen Fingern. Mein erster Instinkt war ihn aus meinen Nägeln zu kratzen. Denn sein Blut erinnerte mich nur an die eine falsche Entscheidung, die ich an dieser Nacht getroffen habe. Denn ich wusste, dass dieser Entschluss mich für eine lange Zeit verfolgen wird. Auch dass ich mit den Konsequenzen leben musste, die im Nachhinein wohl verdient waren.

Bevor ich das Schloss entsperrte, atmete ich einmal tief durch. Obwohl der tiefe Atemzug sich diesmal eher der Auspuffanlage des verrosteten 80-jahre alten Autos meines Onkels ähnelte.

Ich wusste noch nicht, was mich hinter der Tür erwartete. Doch ich sah schon in meinem Kopf, wie Enid diese schreckliche, rote Reisetasche hastig einpackte, um zu Yoko zu gehen. Ich hätte es ehrlich gesagt auch verstanden. Denn ich hörte sie. Ich hörte, wie sie weinte und schluchzte und versuchte Eugene alles auf einmal zu erklären. Mein Magen bestand aus mehr Knoten als meine geflochtenen Zöpfe, die teilweise zerstört auf meinen Schultern lagen. Ich war zu müde, um mich darum Sorgen zu machen. Ich schwankte lieber die Tür mit demselben Motto auf, mit dem ich Enid retten wollte.

Komme, was wolle.

Nach dem ersten langsamen Quietschen wurde alles wieder still und dunkler in dem sehr hellen Zimmer. Nicht nur ich vergaß für eine Sekunde zu atmen.

- „Oh mein Gott." – hörte ich von Eugene, der mit einem großen Abstand, Enid gegenüberstand. – „Geht's dir gut, Wednesday?!"

Mein Blick wanderte ohne ein Wort von ihm über zu der verletzten Wölfin.

Denn es war nicht wichtig, wie es mir ging.

Sie starrte mich mit nach unten gefallenem Kinn an, ihre Tränen liefen weiterhin ihrem Gesicht hinunter, nur dass sie sich nicht mehr zu bewegen traute. Als wäre Enid sich nicht unbedingt sicher gewesen, dass ich tatsächlich dort stand. Als würde sie denken, sie sieht einen Geist, statt meinem verschmutzten, lügnerischen, wahrscheinlich auch gehassten Leib. Doch ich hätte ihr das niemals übelnehmen können, ich fühlte mich durchsichtig genug, um in dem Boden tief versinken zu können.

Aber das durfte ich noch nicht. Eugene musterte mich immer noch besorgt und stellte Fragen, worauf ich mich nicht mehr konzentrieren konnte.

Wir waren seit Wochen zerstritten, haben auch kein Wort miteinander gesprochen. Trotzdem stand er hier in meinem Zimmer und passte auf meine Enid auf. Er war ein guter, wahrer Freund. Einer, den ich mit jeder Kraft bestrebte zu sein.

- „Danke Eugene." – sprach ich mit zitternden Lippen, bevor ich zu ihm trat und ihm meine Hand reichte. – „Danke, dass du sie nach Hause gebracht hast. Ich werde dir dafür ein Leben lang dankbar sein."

Die Wenclair Story - Gegensätze ziehen sich an (In Bearbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt