Die erste Nacht zurück an der Acedemy hat mich erneut daran erinnert, wie sehr ich die Kontaktlosigkeit genieße. Enid drehte sich unaufhörlich in ihrem Bett und gab von ihr knurrende, schnaufende Geräusche. Was sich zuerst als überaus nervig erwies, brachte mir demnächst überraschenderweise Ruhe. Ich blickte zu ihr rüber und sah ihren halbwegs von dem Bett hängenden Körper. Sie schlief auf ihrem Bauch, ihr rechter Arm berührte fast den Boden. Ihr perfektes Gesicht schaute in meine Richtung.
Einfach makellos.
Es war sehr dunkel im Zimmer, ich konnte dennoch ihre Wunden sehen. Alles, was sie für mich geopfert hatte, zeichnete sich wunderbar in den tiefen Krallenspuren auf der linken Seite ihres Gesichtes aus.
Einiges ist in dieser besagten Nacht passiert, aber zwei Geschehnisse waren wirklich entscheidend. Zum Einen verschwand Goody für immer. Sie gab mir noch eine Chance meine radikalen Fehler zu korrigieren. Ich weiß nicht unbedingt, was mich dazu brachte so viele Verstöße gegen meinen eigenen Prioritäten zu begehen, aber wäre ich nicht von Primitivität blindgläubig gewesen, hätte ich vielleicht alle Warnzeichen gesehen. Xavier war nicht der einzige, der meine Aufmerksamkeit auf Tyler's schuldiges Verhalten zu bringen versuchte.
Meine Zimmergenossin, die sich gerade mit sabberndem Mund auf ihre andere Seite drehte, war ebenso von Anfang an alarmiert. Nur war ich zu leichtsinnig, um diese Zeichen wahrzunehmen. Ihre plötzlich aufgehenden Krallen, ihr merkwürdiges Gefühl in seiner Nähe, ihre allererste Umwandlung. Ich bin mir sicher, dass Enid viel mehr wusste, als sie zugab. Nicht aus dem Grund, weil sie etwas verheimlichen wollte. Sie konnte nur nicht in Worte fassen, was sie fühlte.
Nachvollziehbar.
Meine Gefühle geeignet zu äußern, gehörte niemals zu meinen persönlichen Stärken. Nicht, dass ich überhaupt etwas zugeben wollen würde, denn es gab nichts zum Erzählen. Oder vielleicht doch. Aber mein nicht existierendes Herz konnte sich keine Fehltritte mehr leisten. Es gab nur noch einen richtigen Weg, nämlich mich von allem abzuwenden, das Enid jemals Schaden zufügen könnte. Die Schuld trage ich tag täglich mit mir, dass ich mir Tyler niemals schnappen konnte.
Seine manipulative Art konnte mich täuschen, ich glaubte ihm tatsächlich, dass er mich bevorzugte. Dies wird für immer, der größte, nicht abwischbare, Fleck an meinem Prestige sein.
Unglaublich.
Nur um es klar zu stellen, ich empfand rein gar nichts für ihn. Das war mir von vornherein bewusst. Zumindest keine romantischen Gefühle. Mein Zorn richtete sich jedoch auf ihn aus ganz einfachen Gründen.
Es war mein Schicksal ihn zu besiegen, was schon vor über zwanzig Jahren vorhergesagt wurde. Rowan war ein Feigling, der mich kaltblütig ermorden wollte, aber er führte und motivierte mich, auch wenn unbewusst, diesen Fall zu lösen. Sein Plan war oberflächlich und fehlerhaft, aber ich konnte seine Bemühungen sehr wertschätzen.
Allerdings, was mein Blut tatsächlich zum Kochen brachte, war mehr, als Rowan's Ermordung. Tyler und Laurel begaben sich einer gefährlichen Aktion, als sie die Minderheit an Personen angriffen, die mir zweifelsfrei etwas bedeuteten. Die Liste war nicht lang, beinhaltete nur zwei Namen, aber das Ende der Welt wäre niemals zu weit, um sie zu beschützen.
Eugene und Enid.
Nichts erfüllte mich mit mehr Genuss, als zu wissen, dass Tyler sich in einem hoch isolierten Raum, gefesselt, in einer Zwangsjacke, mit einem Maulkorb über den Kopf, befand. Das war das Mindeste, was er für seine Taten verdiente.
Oft stellte ich mir vor, ihn selber zu sedieren, zu foltern, vielleicht ihm auch einige Knochen zu brechen und obwohl Gedanken, wie diese, sogar mich zum Lachen brachten, verfiel mein Glück innerhalb von Sekunden.
Ich lag immernoch auf meiner Seite und ließ Enid für keinen Augenblick außer acht.
Ich lief die selben Teufelskreise immer wieder. Die Frage war nur warum. Warum wurde ich so sehr mitgerissen, dass ich diesen merkwürdigen Gefühlen nicht entfliehen konnte? Was hat diese Frau mit mir angestellt?
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte meinen Blick auf die pinke Digitaluhr, neben Enid's Plüschtier-Kollektion. Sie zeigte 01:23.
Meh.
Laut Mutter's Worten sollten Mordsgedanken während der Schlafenszeit besser vermieden werden. Zu viel Spaß führt zu Unausgeglichenheit am nächsten Morgen. Doch worauf sie mich niemals vorbereitete, war die Möglichkeit, mich dafür schuldig zu fühlen, es nicht getan zu haben.
Als ich noch klein war, habe ich mit meinem Bruder Pugsley öfter Erwürgen gespielt. Wir legten beide Hände um den Hals des Anderen und drückten zu. Wie jedes einfaches Kinderspiel, dieses hatte auch simple Spielregeln. Besser gesagt, nur eine einzige. Wer zuerst blau anläuft, verliert.
Mit Enid wieder in dem selben Zimmer zu schlafen, fühlte sich ähnlich an. Als hätte sie die Kontrolle über meine Atemwege. Sie spielte mit meinem Leben, sie spielte mit meinen Gedanken. Richtig. Zuerst mit meinem Körper, da ich mich nicht mehr neutral in ihrer Nähe verhalten konnte.
Ich langte nach der Kette um meinen Hals. Ich spielte mit dem winzigen Wolf Anhänger, manchmal schaute ich einen Moment lang nach unten. In der nächsten Sekunde hörte ich kleine Tippgeräusche, die immer näher kamen.
'Warum schläfst du nicht?'
Ich setzte mich auf und lehnte mich gegen den Kopfteil meines Bettes.
Obwohl Thing nur eine Hand war, war er womöglich das einzige Familienmitglied, das ich einigermaßen ertragen konnte. Vielleicht auch Onkel Fester. Er war aber schon immer ein hoch angesehener Geschäftsmann in der Familie. Sehr beschäftigt, immer auf Reisen und sehr kriminell. Ein viel mehr geschickter und weiser Ted Bundy per se. Gefangenschaft war niemals in seinen Karten.
'Das soll nicht deine Sorge sein.'
Gebärdensprache machte es leichter nachts zu kommunizieren. Mit zwei Jahren konnte ich mich schon fließend mit ihm unterhalten.
'Was bedrückt dich?'
Thing wusste immer sofort, wenn ich mich nicht angemessen fühlte. Er wusste jedoch auch, wie sehr ich es hasste mit Emotionen beschuldigt zu werden.
'Du wirst bedrückt sein, wenn ich dich von der Terrasse werfe.'
Ich verdrehte meine Augen und wartete auf die übliche, verängstigte Reaktion, die ich immer nach einer Drohung bekam. Nur kam sie diesmal nicht.
'Okay. Aber wenn du reden willst, weißt du, wo du mich findest.'
Kaum beendete er seinen Satz, bückte er sich und kroch langsam in die Richtung, aus der er kam.
"Thing?" - blieb er plötzlich auf meine flüsternde Stimme stehen und schaute mir in die Augen. - "Du musst morgen herausfinden, ob Werewölfe die Fähigkeit haben, jemanden zu manipulieren. Besonders nach der ersten Transformation."
Er zeigte den Daumen nach oben und verschwand unter dem Bett.
Die Schönheit in unserer Beziehung bestand darin, dass wir ohne was in Frage zu stellen taten, was der andere brauchte. Nein, da muss ich mich korriegieren, er tat alles was ich ihm sagte. Mir konnte niemand Befehle erteilen.
Außer vielleicht eine Person. Dieser Fluch musste so schnell, wie möglich gebrochen werden. Zu ihrer eigenen Sicherheit.
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Erstveröffentlichung: 27.12.2022 (458 Wörter)
Neuveröffentlichung: 16.06.2023 (1077 Wörter)
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Die Wenclair Story - Gegensätze ziehen sich an (In Bearbeitung)
RomanceWie wird aus einer ungewollten Freundschaft eine tiefe Romanze? Auf diese Frage werden wir demnächst die Antwort finden. Die Geschichte basiert auf die bekannte Netflix Serie Wednesday und findet gleich nach dem Ende der ersten Staffel statt. Aus de...