Kapitel 20 - Kleine Giftschlange

207 11 0
                                    

Was sich die dicke Akte beinhaltete, wusste ich nicht. Besser gesagt konnte ich es mir überhaupt nicht vorstellen. Denn sogar der eine kleine Absatz, den ich gelesen habe, verdrehte mir den Magen.

„Die Berechnung für die Geschwisterschaftswahrscheinlichkeit erfolgte durch die Gegenüberstellung von Hypothesen „Thorpe ist der Bruder von Francoise G." und „Thorpe ist nicht der Bruder von Francoise G.". Die daraus resultierende Berechnung führte zu einem Gesamtwert der Plausibilität von W=99,9999%.

Herr Vincent Thorpe, geboren am 15.03.1984 (38 Jahre alt), ist laut der berechneten Wahrscheinlichkeit das Vollgeschwister von Francoise Galpin (Mädchenname: Francoise Thorpe), geboren am 25.05.1981 (verstorben im Alter von 24 im Jahre 2005).

Die zur Untersuchung Verfügung gestellten Proben wurden einer Analyse von 23 DNA-Regionen unterzogen. Das Untersuchungsmaterial ist eindeutig, unverwechselbar und dauerhaft bezeichnet."

- „Folgen Sie mir, Miss Addams."

Sie hörte sich an, wie die Frau, die ich vor einigen Wochen kennengelernt habe. Die neue, zittrige und zu unsichere Direktorin der Nevermore Academy, vor der niemand Angst hatte zu treten, weil sie zu milde Bestrafungen ausgeteilt hatte. Die mit geschlossenen Augen, an sich zwei streitenden Schülern, vorbeilief, ohne auch ein einfaches „Es reicht!" zu sagen. Ich verstand die nötige Lage der Schülerkommission, dass sie jemanden auf die Schnelle einstellen mussten, nur um das Schuljahr zu starten, aber dass sie diese Inkompetenz unterstützten, war für mich auch überraschend. Mein Verdacht wuchs, dass es hier von Anfang an etwas nicht stimmte.

- „Sie sind keine Lehrerin."

Als ich diese Worte vor zwei Tagen in ihrem Büro von mir gab, erwartete ich einen Widerspruch. Ein Monolog über Respekt, Anerkennung von der harten Arbeit und die Opfer, die sie für diese Schule bringen musste. Aber es kam nicht, es kam gar nichts. Mit der Akte in meiner Hand und einem neuen Fall in der Tasche wurde ich entlassen, entschuldigt, fast schon rausgeworfen.

Ich wusste, dass diese Mission Gefahr mit sich bringen würde, dass ich diese Akte mit demselben Schwung zurück zu Miss Gray hätte werfen sollen, mit dem sie mir die gegeben hatte. Denn was sollte mich Tyler noch interessieren? Enid war meine Priorität, sie war wichtig für mich. Ich wollte mich allein für sie ändern. Ich hatte es auch überlegt nochmal anzuklopfen, um das Angebot offiziell abzulehnen. Aber mein Interesse wurde verdammt nochmal geweckt.

Xavier's Vater und Tyler's Mutter sind Geschwister gewesen. Genau das stand hier in meinen Händen. Schwarz-weiß, wissenschaftlich bewiesen, was mich noch übler machte.

Mein Treffen mit Enid stand auch noch an dem Abend an. Sie wollte spazieren gehen. Würde ich jetzt zurückkehren, könnten wir den Spaziergang für den Tag vergessen. Doch darauf habe ich zu lange gewartet. Ich war schon sowieso spät dran. Was würde noch schaden, wenn ich sie lese und sie erst morgen zurückgebe?

Und ich konnte es nicht tun. Ich klopfte nicht an.

Nun lief ich dunklen Fluren entlang, zwischen feuchten Wänden mit bewaffneten Personen hinter meinem Rücken, einer, mir sehr wohl bekannten, Person folgend. Miss Olivia Gray.

Sie trug einen engen, dunkelblauen Anzug mit hohen schwarzen Schuhen und ihrem Namensschild an der Brust. Ihre Haltung war gerade und selbstsicher, vor allem als wir an einer Tür mit einem Fingerabdruckleser ankamen. Sie drückte ihren Daumen an das Gerät und das Schloss ging auf.

Der Keller-ähnliche Ort bestand aus zwei getrennten Räumen. In dem kleineren Teil, in dem wir landeten, stand ein Tisch zu einem großen Fenster gestellt, wodurch man einen guten Blick in den anderen Teil des Raumes werfen konnte. Auf dem Tisch waren laute technischen Geräte. Ich erkannte nicht viele, aber tatsächlich sah ich ein Mikrofon, zwei Lautsprecher, einige großen Kopfhörer und einen Kassettenrekorder. Stapeln von Dokumenten, unbeschriebenen Notizhefte und Stifte lagen daneben. Es war komplett dunkel auf der anderen Seite des Fensters, viel erkennen konnte ich daher nicht, aber das war auch nicht nötig. Ich konnte ahnen, was hier ablaufen wird. Denn es war nichts anderes, als ein Verhörraum und das in der Mitte war kein Fenster, sondern ein Einwegspiegel. Von unserem Standpunkt aus sieht man, was in dem Innenraum passiert, andersrum jedoch nicht.

Die Wenclair Story - Gegensätze ziehen sich an (In Bearbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt