15. Allein auf weiter Flur

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»Aufstehen, Dornröschen, die Sonne scheint!«, drang eine tiefe Stimme in Garretts Bewusstsein und er streckte sich.
»Ist es schon 7?«, murmelte er schlaftrunken und Dionysos lachte.
»Schon Viertel nach. Auf, auf, deine Mutter wird durch die Tablette nicht mehr lange schlafen und dann solltest du zuhause sein.«
Garrett erhob sich aus der nestartigen Kuhle, die er in der Matratze hinterlassen hatte und streckte sich ausgiebig. Bis sein Rücken knackte.
»Dieses Episodenschlafen ist nichts für mich. Ich brauche mindestens 7 Stunden am Stück.«
Dionysos schmunzelte.
»Du hattest 7 Stunden... nur mit Unterbrechung.«
Garrett glättete sich die Haare und nahm dankend den Kakao entgegen, den der Vampir ihm hinhielt.
»Hast du was erreicht?«, murmelte er zwischen zwei Schlucken und deutete auf das Handy.
»Bleibt abzuwarten.«
»Und was, wenn nicht?«, flüsterte Garrett mit belegter Stimme.
»Dann verlassen wir die Stadt und du fängst mit deiner Mum irgendwo neu an, bis hier alles wieder im Lot ist. Wolltest du nächstes Jahr nicht eh auf die Uni nach London? Erzähl' mir nicht, du willst hier bleiben. So ohne Freunde und alles...«
Garrett setzte sich auf einen Stuhl und sein Schoß wurde sofort von Nikodemus in Beschlag genommen.
»Keine Ahnung. Aber hier ist mein Wald, verstehst du? Mir gefällt der Gedanke nicht, wegzugehen und verbrannte Erde zu hinterlassen. Damit würden wir alle hier, die ich kenne, seit ich laufen kann, im Stich lassen.«
Er leerte seine Tasse.
»Und ich bin nicht wie du. Ich kann mich nicht darüber freuen, wenn Leute von diesen Ungeheuern zerfetzt werden – auch nicht, wenn es sich dabei um einen Kyle Hastings oder einen Stephen Boyd handelt, die mir seit 5 Jahren das Leben zur Hölle machen.«
Dionysos lächelte und fuhr Garrett im Vorübergehen mit den Fingern durch die Haare.
»Und weil du so denkst, hol' ich uns die Stadt zurück. Es wird sicher nicht opferlos vonstatten gehen, aber sie wird am Ende wieder mir – und damit dir – gehören.«

Wenige Minuten später stapften die beiden durch den Wald, zurück zu Garretts Elternhaus. Dionysos trieb ihn zur Eile an, sagte, Garretts Mum wäre soeben aufgewacht.
»Mit einem Brummschädel wie ein Seemann.«, kicherte der Vampir, warf sich den Jungen auf den Rücken und erklomm mit einem Satz die Hauswand, um Garretts Fenster hochzuschieben. Er schob ihn hinein und sich hinterher.
»Schnell, Pulli und Schuhe aus, rein ins Bett, sie ist schon an der Treppe.«, zischte Dionysos.
Garrett riss das Sweatshirt runter, was immer noch komisch nach Ghoul roch und strampelte sich die Schuhe ab. Er deckte sich zu und der Vampir hatte sich gerade unter das Bett gerollt, als die Tür leise aufging.
»Guten Morgen, Schatz. Möchtest du mit mir frühstücken?«
Garrett tat so, als wäre er erst durch das Türenöffnen wach geworden. Nicht unüblich, diese Zeit. Normalerweise verließ er gegen Viertel vor 8 das Haus, um zur Schule zu radeln. Wenn er spät dran war.
Aber es war Donnerstag und er galt in der Schule als krank.
»Ja«, murmelte er deswegen. »Machst du Pfannkuchen?«
Seine Mutter nickte mit einem Lächeln und ihre Fürsorglichkeit kam Garrett komisch vor. Sie schloss die Tür und Dionysos guckte unter dem Bett hervor.
»So mütterlich ist sie sonst nie zu mir. Sie sagt nie Schatz...«, murmelte der Junge und Dionysos kam wieder aus seinem Versteck.
»Der Tod eines Menschen, den man gut kannte, macht den Leuten bewusst, wie vergänglich sie sind und löst in ihnen den Wunsch aus, ihre Liebsten um sich zu haben. Das Verhalten deiner Mum ist ganz normal.«
Garrett nickte nachdenklich, während er ein frisches T-Shirt aus dem Schrank zog. Sich bewusst, dass er nicht allein im Zimmer war, zog er das alte, nach Ghoulen und Angstschweiß müffelnde Shirt aus. Er hatte das neue gerade über den Kopf gezogen, als er die kühle Hand des Vampirs auf seiner Haut spürte. Diese Stelle kribbelte.
»Woher hast du diese Narbe hier?«, fragte dieser leise und rau.
»Da hat mich Kyle die Treppe runtergeschubst und ich hatte eine Platzwunde.«
»Und diese hier?«
»Ein... ein Stein...« Garrett wurde durch die sanften Fingerspitzen immer nervöser.
»Ich hätte den Bengel wohl in der Nacht schon aufhängen sollen, als er sein bereits am Boden liegendes Opfer noch weiter mit Füßen trat.«, knurrte Dionysos und Garrett zog sich richtig an.
»Du weißt noch nicht mal die Hälfte von allem.«, sagte er leichthin, doch Dionysos' Augen leuchteten bedrohlich auf.
»Erzähl' es mir!« Er hob die Nase und seufzte. »Nach dem Frühstück, ich rieche Pfannkuchen. Nach dem Erlebnis gestern wird sie sicher daheim bleiben. Überzeug' sie von dem Urlaub, dass sie wegfahren soll. Los, ab. Ich mache solange ein Nickerchen.«
Der Vampir schob Garrett mit sanftem Druck aus dem Zimmer und stieg anschließend in dessen Bett. Nach dieser Nacht brauchte selbst jemand wie er mal eine Stunde Schlaf.
Der Junge grinste und schloß vorsorglich die Tür hinter sich zu, damit seine Mutter den wildfremden Mann in seinem Bett nicht zufällig entdeckte.
Allein der Gedanke „Mann in seinem Bett" brachte Garretts Wangen zum Glühen.

DIONYSOS I. ZufluchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt