»Ich bin ein Idiot, Nikodemus. Ein riesiger Idiot.«, murmelte der junge Mann in der Dunkelheit zu dem schwarzen Kater, dessen Augen als winzige Lichter auszumachen waren. Warum hatte er sich hinreißen lassen, den Jungen zu küssen? Was hatte er sich davon versprochen? Dass er angewidert sein würde und dieses komische Gefühl verschwinden würde? Dieser Schuss war dann wohl eindeutig nach hinten losgegangen, denn nun stand sein Körper erst Recht in Flammen.
Und die überraschte Haltung Garretts tat ihr Übriges. Dieser hatte sich nämlich ebenso auf ihn eingelassen anstatt ihn von sich zu stoßen.
»Was habe ich doch für ein Glück...«
Als wäre es nicht schon ungewöhnlich genug, ein Vampir zu sein - eine Tatsache, die Garrett eigentlich abschrecken und nicht anziehen sollte - war er zu allem Übel auch noch einer, der Männer bevorzugte. Er hielt es geheim, um seinen Ruf zu wahren, aber es war nun einmal Fakt. Seine bevorzugte Jagdbeute wie auch bevorzugte Sexualpartner waren Männer.
Garrett sollte weder das eine noch das andere für ihn sein. Sein Duft zog ihn an wie eine Biene von einer Blüte angezogen wurde, dennoch verspürte er nicht den Drang, sein Blut zu kosten. Und für das andere war Garrett... ihm zu jung? Wohl kaum.
»Worüber denke ich eigentlich nach, Dicker? Er kennt mich seit einem Tag... und er sollte Angst vor mir haben, stattdessen kommt er wieder und wieder zurück, als hätten ihn die Geschichten, die er über mich gehört hat, nicht beeindruckt... Und ich sollte so sein, wie ich es immer war. Ich sollte mir keine Gedanken darüber machen, ob er bei der nächsten Vampirschwemme drauf geht. Sowas hat mich doch früher auch nicht interessiert.«
Nikodemus trabte zu seinem Herrchen, das Selbstgespräche führte, setzte sich vor ihn und miaute. Der junge Mann fuhr dem Kater mit der Hand über den Kopf.
Jeder andere Mensch in dieser kleinen Stadt war ihm so wichtig wie ein Käfer, den er unter seinem Schuh zerdrückte. Warum war das bei Garrett so anders? Lag es daran, dass er ihn vor 4 Jahren hatte weinen sehen? Dass er wusste, was für ein verletztes Kind er war und dass er ihn an sich selbst erinnerte? Er konnte unmöglich ernsthafte romantische Gefühle für ihn haben, immerhin hatten die beiden erst ein paar Worte miteinander gewechselt. Und Liebe war außerdem ein Gefühl, das er, Dionysos, nie wirklich kennengelernt hatte. Er hatte nur einmal in seinem Leben einen Menschen geliebt und der war ihm genommen worden, vor vielen Jahren, als er selbst noch ein Kind war. In einem kalten und unwirtlichen Kloster irgendwo in Irland.
Er seufzte schwer bei der Erinnerung.
Er hatte Lachlan nicht retten können. Doch er würde Garrett nicht einfach so in seine Vernichtung rennen lassen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das Leben der Menschen in Gatwick verändern würde und er konnte nichts ändern. Hätte er gewusst, dass es 100 Jahre später einen Menschen geben würde, der es wert war, gerettet zu werden, hätte er sich auf den Deal niemals eingelassen...
Missmutig stieg der junge Gentleman aus der Droschke und putzte sich den Mantel ab. Es regnete und der Boden war schlammig. Kaum zu glauben, dass er sich im ach so fortschrittlichen London befand, wenn die Straßen nicht mehr als festgefahrener Lehm waren, der bei Regen für allerhand Dreck sorgte. Den Mantelkragen aufstellend blickte er sich nach der gewünschten Hausnummer um und beeilte sich, diese zu erreichen, bevor der Regen seine Kleider endgültig durchgeweicht hatte.
Er hätte in seinem Wald in der Provinz bleiben sollen. Er hasste die Hektik der großen Stadt, das Geschrei und Gepöbel der Menschen, das laute Rattern und Schlammverspritzen der Droschken und immer mehr werdenden Automobile, die es auf den Straßen zu bestaunen gab. Und er hasste den Gestank.
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DIONYSOS I. Zuflucht
VampireDer Vampir Dionysos will nur seine Ruhe haben und in Frieden leben. Die Menschen und die Welt kümmern ihn nicht. Doch eine alte, fast vergessene Abmachung reißt ihn ebenso aus seiner Einöde wie der 18-jährige Garrett, der wie der Vampir im Wald nach...