5. Gehetzt

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»Garrett, steh auf, verdammt!«

Das Schreien seiner Mutter ließ den Jungen murren. Er lag schon einige Zeit wach, sträubte sich aber, aufzustehen. Er wollte seiner Mutter nicht begegnen, er wollte nicht mit ihr reden, sich nicht wieder vorhalten lassen, wie schrecklich anders er war und wie sehr sie sich wünschte, einen normalen (und total bescheuerten) Sohn wie Kyle zu haben. 

Sein Handywecker rumorte ein weiteres Mal und mit einem tiefen Seufzen erhob er sich und glättete sich das Haar. 

Mit wenigen Handgriffen war er ausgehfein und verschwand im Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.

Seine Mutter verzog missbilligend den Mund, als Garrett wenige Minuten später mit Leichenbittermiene am Frühstückstisch saß. Er hatte sich selbst übertroffen mit seinem Outfit und, weil er wusste, das es seine Mutter aufregte, zur Abwechslung sogar etwas Kajal aufgetragen.

So überraschte es ihn nicht, das sie ihn mit einem Seufzen betrachtete. Er freute sich innerlich über den Ärger, den er ihr bereitete. 

»Was habe ich mit dir nur falsch gemacht, das du so geworden bist...?«, murmelte sie. Ein Satz, der Garrett traf, auch wenn er sich nichts anmerken ließ.

Er fragte sich, warum sie ihn eigentlich nach der Scheidung hatte behalten wollen, wenn ihr so wenig an ihm lag oder sie sich seiner schämte. Sein Vater hätte ihn liebend gern mit nach London genommen.

»Gar nichts, Mum. Wäre es dir lieber, ich würde Drogen nehmend irgendwo in der Ecke rumliegen? Oder jedes Wochenende besoffen sein, rumvögeln und vielleicht mit irgend‘ner Seuche nach Hause kommen? Oder irgend’ner Tussi ein Kind machen? Ich versteh den Stress nicht, den du machst.«

»Nein, all das möchte ich nicht, aber... wenn du nur ein bisschen normaler wärst.«

Garrett verdrehte die Augen. 

Immer die selbe Leier und am Ende war es immer das selbe Ergebnis. Sie warf ihm vor, unnormal zu sein, ein Freak, der sich nicht anpassen konnte. Und dann gab sie seinem Vater die Schuld. Sie verstand nicht, dass er sich so anzog und diese Hobbys hatte, weil ihm das gefiel.

Sie hielt ihn für einen verkappten Satanisten, der depressiv in der Ecke rumhockte und die toten Tiere, die er fotografierte, wahrscheinlich noch selber meuchelte. Er hielt sich für einen normalen Typen, der einfach nur gerne schwarz trug, laute Musik mochte und sich mit dem Tod auseinander setzte – ganz ohne depressiv zu sein. 

»Lassen wir dieses Thema, Mum. Du willst es nicht verstehen und ich will nicht schon wieder streiten. Ich hab heut genug zu tun...«

Seine Mutter machte ein halb lachendes und halb schnaubendes Geräusch, erhob sich und nuschelte dabei etwas von »tote Tiere suchen gehen«. 

Sie hatte sich extrem auf die Kadaver eingeschossen, seit sie durch Zufall mal eine Reihe gesehen hatte, die er angelegt hatte. Damals hatte er einen frischen Fuchs-Kadaver im Wald gefunden und diesen in verschiedenen Stadien der Verwesung fotografiert. Auf seinem Fotoblog kam die Serie sehr gut an, doch seine Mutter verurteilte seitdem sein Hobby zutiefst. Das er auch Blumen und lebende Tiere, sowie Wolken und ganz Alltägliches aufnahm, zählte plötzlich nicht mehr. 

Garrett machte hinter ihrem Rücken eine abfällige Handbewegung und trank die Milch aus seiner Cornflakesschüssel aus. 

»Ich bin dann weg. Es kann spät werden, ich wollte in der Bibliothek noch was für mein Essay recherchieren.«

Seine Mutter nickte nur.

»Findet euch bitte in Gruppen zusammen. Ich möchte die Aufgabe am Ende der Stunde bewerten. Keine Widerworte!«

DIONYSOS I. ZufluchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt