14. »Was ist ein Name...«

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Die Worte des Vampirs verhallten und der Wind trug sie über die Hausdächer. Garrett begann zu frieren, denn es wurde nicht nur windiger, sondern auch kälter. Als wolle der Regen, der den ganzen Tag gefallen war, wieder einsetzen.
»Es tut sich nichts...«, murmelte der Junge, doch Dionysos schüttelte den Kopf. Er hörte, was Garrett entging. Nämlich das Schlurfen lahmer Füße, das Grunzen verfaulter Mundhöhlen und das Knurren als Zeichen des Wahnsinns.
Allister schickte seine Ghoule los, doch kam er auch selbst?
»Doch. Ghoule sind unterwegs.«, knurrte der Vampir deswegen und bemerkte sogleich Garretts angstvolle Blicke.
Der blickte auf den Platz und klammerte sich an das steinerne Kreuz. 10 Meter über dem Boden war nicht sein Lieblingsort.
»Also sitzen wir in der Falle?«, fiepste er.
»Nein. Notfalls springe ich über die Dächer. Ich bring dich wieder heil nach Hause, das schwöre ich bei Gott!«, stieß Dionysos hervor, als die ersten Ghoule auf den Platz schlurften.
»Was soll das, Allister? Wie soll ich mich mit dem Unrat unterhalten? Traust du dich nicht, selbst zu kommen?«
Dionysos sprach nur unwesentlich lauter als mit Garrett. Vampire mussten wirklich ein bemerkenswertes Gehör haben, dass dieser Allister, egal wo er steckte, die Worte dennoch hören konnte.
Gespannt und schrecklich frierend beobachtete Garrett die Szenerie. Er zählte ein Dutzend Ghoule auf dem Platz, doch wer konnte sagen, wie viele noch in den dunklen Gassen drumherum verborgen waren? Er hatte es gerade mal geschafft, einen zu erledigen. Was ihm nicht gelungen wäre, hätte Dionysos den zweiten nicht ausgeschaltet.
Er konnte für den Vampir nur eine Last sein, wenn er sich nicht endlich zusammenriss. Er war kein Kind mehr! Er wollte unter keinen Umständen, dass diese Ekelviecher oder irgendwelche Vampire die Herrschaft in Gatwick übernahmen. Wenn die Stadt schon ein Vampirterritorium sein musste, dann lieber das eines Mannes, der Menschen und ihr Blut verabscheute.
Er sah zu Dionysos hoch, dessen Brauen sich beinahe berührten, so kraus war seine Stirn gezogen. Befürchtete er, umsonst auf den Platz gekommen zu sein? Umsonst diese Horde von Ghoulen auf den Plan gerufen zu haben?
Denn der, den er zu sprechen verlangte, schien ihn warten lassen zu wollen.
»Elender Feigling.«, knurrte der Vampir.

»Aber, aber, Mylord. Diese Ungeduld ziemt sich aber nicht.«
Eine blasierte Stimme wehte über die Dächer, durch den Wind getragen oder der guten Akkustik geschuldet, so deutlich, dass selbst Garrett sie klar und deutlich hören konnte.
Auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes - früher war es das Rathaus, heute ein einfaches Verwaltungsgebäude einer ansässigen Firma - tauchte eine Gestalt im Mondlicht auf. Die Hand lässig auf einem der kleinen Giebeltürmchen gelegt, bot sie allen einen perfekten Blick auf sich.
Garrett lobte seine guten Augen, die trotz des diffusen Lichts einen Mann um die 30 erkannten, mit markanten Augenbrauen und einem gepflegten, kurzen Bart, der den süffisant grinsenden Mund umrahmte. Er trug, als wolle er sich deutlich von Dionysos abheben, einen hellen Mantel, der ihn noch blasierter und dandyhafter aussehen ließ.
»Allister!«, fauchte Dionysos und Garrett konnte das rote Glimmen in den dunkelbraunen Augen erkennen.
»Warum so ungehalten, Mylord? Wir hatten eine Abmachung oder liege ich da falsch? 100 Jahre und die Stadt gehört mir. Ich maße mir nicht allzuviel an, wenn ich behaupte, seit 1914 sind 100 Jahre vergangen, oder?«
Der Klang der Stimme ließ Garretts Innerstes zu Eis gefrieren und machte ihn krank. Er konnte es kaum ertragen.
»Und wie ich sehe, habt Ihr mir sogar ein Begrüßungsgeschenk mitgebracht? Ein Mädchen hätte größeren Anklang gefunden, doch wie sagen die jungen Leute heute? Nevermind.« Allister lachte, Garrett begann zu zittern und Dionysos knurrte.
»Nichts dergleichen, alter Freund! Ich habe die Stadt nicht zu den Bedingungen abgegeben, dass du hier Ghoule anschleppst.«
»Meine Stadt, meine Regeln. Ihr müsst wissen, eine Provinzklitsche bringt wenig Zerstreuung. Doch diese Kameraden tun das«.
»Indem sie Menschen in Panik versetzen? Nein, Allister! Zu diesen Bedingungen ist die Abmachung nichtig. Nimm deine Lakaien und verschwinde aus meiner Stadt!«

Einen Moment herrschte Stille auf dem Platz. Nur das leise Grunzen der Ghoule war zu hören und das Heulen des Windes. Garrett verspürte für eine Sekunde einen leisen Funken Hoffnung, dass alles vorbei war, bevor es überhaupt anfing. Doch dann begann Allister, zu lachen.
»Mylord - wenn ich dich überhaupt so nennen soll - die Zeiten haben sich geändert. Wir leben nicht mehr im höfischen und vornehmen England der spätviktorianischen Zeit, in der ein Vampir nur so viel war wie die Anzahl seiner Lebensjahre. Es ist die Zeit der Rückbesinnung auf alte Werte und Stände! Ich bin Allister Saltire, der jüngste Sohn des Duke of Holdernesse, eines der ältesten und angesehensten Adelsgeschlechter Englands! Ich weigere mich, hinzunehmen, dass ich weniger wert sein soll als du!«
Dionysos verschränkte die Arme vor der Brust und kräuselte die Lippen in einem verhaltenen Grinsen.
»Holdernesse, hm? War es nicht dein Bruder, der damalige Duke, der allen Reichtum in Nutten und Pferderennen investiert hat? Damals 1798? Es hat die Familie beinahe ruiniert. Ich habe es amüsiert in der Presse verfolgt. Sehr delikat, auf diese Verwandtschaft zu bestehen, meinst du nicht?«
Allister ballte die Hände zu Fäusten, doch grinste dann ebenfalls. Viel bösartiger, als Dionysos es getan hatte.
»Wer bist du schon, dass du große Töne spuckst. Ich habe mich informiert über dich, bevor ich herkam. Hätte ich es damals getan, fraglich, ob ich, Sproß einer Adelsfamilie, überhaupt in der Lage gewesen wäre, dir den Respekt entgegenzubringen, wie ich es tat. Ich weiß alles über dich, oh du großer Dionysos, der du nicht viel mehr als der Sohn eines stinkenden Fischers und seiner Hure von Frau bist.«
Dionysos krallte die verschränkten Finger in den Stoff seines Mantels, was auch Allister nicht entging.
»Zweiter Sohn, viertes von insgesamt 13 Blagen, von denen die Hälfte starb, bevor sie 10 war. Ist doch so, oder? Wurde mit 9 ins Kloster abgeschoben, hab ich Recht? War bestimmt toll da.« Allisters höhnende Stimme troff vor Sarkasmus.
»Einen Punkt in deiner Lebensgeschichte fand ich ja besonders spannend. Wann hattest du vor, der Gemeinschaft zu verraten, dass du dich lieber in der Gesellschaft von Männern durch die Kissen wühlst?!«
Dionysos' Gesichtsfarbe wechselte von einem zornigen Kalkweiß zu einem Rot, bei dem Garrett nicht genau wusste, ob es Verlegenheit wegen des fiesen und herablassenden Outings war oder kochende Wut.
»Sieh es ein, Dionysos. Du bist nicht den Dreck unter meinen Fingernägeln wert. Du bist nichts weiter als ein armseliger, dreckiger kleiner Fischerssohn, der das Glück hatte, ein Unsterblicher zu werden. Ein Mann, der vorgibt, etwas zu sein, das er nicht ist. Arrogant, überheblich, vorlaut und ein dreckiger Sodomit obendrauf. Sogar dein Name gaukelt der Welt etwas vor und zeigt doch nur deine Arroganz. Dionysos. Sich auf eine Stufe mit einem Gott zu stellen, ist eine Sünde. Sag doch der Welt deinen richtigen Namen!«
Allister höhnte und Garrett konnte sehen, dass sich auf dem Platz einige Personen versammelt hatten, die eindeutig keine Ghoule waren. Es waren ansehnliche Männer und Frauen, etwas mehr als ein Dutzend. Allisters Vampire, die nun angesichts der Bloßstellung Dionysos' lachten und triumphierten. Dionysos selbst starrte Allister ungebrochen in die Augen, die Zähne gefletscht.
Garrett ahnte, dass er, wenn er die Gelegenheit hätte, sein überhebliches Gegenüber in kleine, blutige Stücke reißen würde.
»Du willst es deinem gespannten Publikum nicht verraten? Deinen armseligen Namen?«
»Wage es dich, meinen Namen mit deinem Lügenmaul auszusprechen!«, knurrte Dionysos kalt, doch Garrett musste sich eingestehen, dass er den Namen des Vampirs nur zu gern erfahren würde.
»Was geschieht dann? Erschlägt mich einer von Zeus' Blitzen? Ach nein, du bist ja nicht der echte Dionysos. Ladies and Gentlemen, darf ich vorstellen? Unser wertes Gegenüber, das wir lange Zeit - völlig zu Unrecht, wie wir nun wissen - respektierten: der Fischerssohn, rechtens getauft 1281 auf Mr. Henry William St. John! Nicht sehr eindrucksvoll, wenn du mich fragst, mein Guter. Da beeindruckte es mich mehr, dass das Taufregister dieser Epoche noch existierte.«
Dionysos' Gesicht war zu einer Maske aus blankem Hass erstarrt, mit dem er Allister beinahe körperlich zu durchbohren schien.
Nie, niemals sollte ein Vampir den Namen des Jungen aussprechen, der er einst war. Er hatte es sich geschworen und Allister hatte dadurch sein eigenes Todesurteil unterschrieben.
»Ich sag dir was, Henry. Die Dinge stehen, wie sie stehen. Ich bin als Grundbesitzer gekommen, um einzunehmen, was mir gehört. Aber ich bin gnädig, immerhin sind wir eine Rasse. Dich zu töten liegt nicht in meiner Absicht. Die Eigentumsrechte bleiben bestehen, es ist nach wie vor dein Wald und dein Wildbestand. Ich empfehle dir allerdings, verlass die Stadt besser ganz. Ist leichter für uns alle. Nimm deine kleine Freundin da und geh - oh verzeih, das ist ja ein Junge. Ich vergaß für eine Sekunde deine widernatürlichen Präferenzen. Gehst du nicht, gibt es Krieg und ich lösche jeden aus, der dir - oder nein, der ihm...« Allister deutete auf Garrett. »... etwas bedeutet. Ich glaube, das ist deine größte Achillesferse, was, alter Freund?«
Allisters Vampire stimmten in das Lachen ein, selbst die Ghoule imitierten das Geräusch und Garrett befand sich erneut im kalten Würgegriff der Angst. Es war alles noch 100mal schlimmer geworden!
Er blickte auf, als er Dionysos' Hand auf seiner Schulter spürte. Er lächelte, doch irgendwie wirkte es falsch.
»Komm, wir gehen nach Hause. Für heute können wir nichts mehr tun.« Er zog den Jungen hoch und hielt ihn fest.
»Allister. Ich verlasse mich darauf, dass du mir Zeit lässt. Sollst du sie haben, diese miese kleine Stadt.«
Der angesprochene Vampir nickte wie ein alter König. »Lass dir nicht zu viel Zeit, sonst wird der Junge da mein erstes Opfer!«
Garrett spürte, wie die Muskeln Dionysos' unter dem Mantel hart wurden. Doch er sagte nichts. Er nahm Garrett huckepack, wie in der Nacht, als er ihn von den Schlägern befreit hatte und sprang mit einem Satz auf das Dach des Nachbarhauses. Allister stand im Mondlicht und aalte sich förmlich in seinem Sieg.

DIONYSOS I. ZufluchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt