Wie in den Nächten zuvor stand der klare silberne Mond über dem Wald, als der junge Mann leise wie ein elegantes Raubtier durch das Dickicht schlich.
Eine deutliche Witterung lag in seiner Nase und führte ihn geradewegs zu seiner Beute. Das Blut rauschte in seinen Ohren, wie immer, wenn er auf der Jagd war und ein Gefühl der Freude überkam ihn, durchbrach es doch seine unermessliche Langeweile.
Er schlich weiter und ein majestätischer junger Hirsch tauchte zwischen den Bäumen auf, arglos an den jungen Schösslingen knabbernd.
Der Mann zerbröselte eine Handvoll Blätter, um seinen Geruch im leichten Wind zu verschleiern. Tiere waren bekanntlich sehr viel empfänglicher für die Präsenz des Bösen und er wollte sich seinen Fang um keinen Preis verderben, stand doch daheim bereits das Salz bereit, mit dem das Fleisch des Tieres vorbereitet und verwertet werden sollte.
Der freche kleine Kater hoffte ebenfalls auf einen Teil der Beute und er, der junge Mann, war nach drei Wochen Fasten mittlerweile wirklich ernsthaft hungrig.
Einige Minuten verbarg er sich in dem Gehölz und bewunderte den Hirsch, der zu einer beachtlichen Größe heranwachsen würde, würde er ihm heute Nacht nicht den Garaus machen.
Er spannte sämtliche Muskeln an, drückte seinen Fußballen in den weichen Waldboden und ließ sich schließlich mit der Macht einer Gewehrkugel nach vorne schnellen.
Der Hirsch starb, noch bevor er wusste, wie ihm geschah.
So mochte es der Mann am liebsten. Starb seine Beute ohne Angst, verdarb dies nicht den Geschmack des Blutes, welches nun mit Macht, heiß und wohltuend, seine trockene Kehle hinunter rann.
Erschlafft ging das Tier nach wenigen Minuten zu Boden und wurde auf die Schulter gehievt. Sich mit einer Hand den Mund abwischend, trug der junge Mann seine Jagdbeute zu seinem kleinen Refugium, wo der Kater bereits im Fensterbrett saß und ihn erwartungsvoll anmauzte.
»Na, welche Begrüßung. Ein Weilchen wirst du schon noch warten müssen, Nikodemus!«, murmelte er und fuhr dem Tier sanft mit der Hand über den Kopf.
Der kleine Streuner musste einem der Stadtbewohner einst einmal weggelaufen sein. Ein Wunder, das er im Wald nicht von Mardern oder anderen kleinen Jägern getötet wurde, immerhin war er halb verhungert, als er vor seiner Tür saß. Mittlerweile war er ausgewachsen, gut genährt und durchaus in der Lage, erfolgreich zu jagen, sodass er nur unregelmäßig von dem jungen Mann selbst gefüttert wurde.
Der Hirsch wurde fachmännisch gehäutet, zerteilt und das Fleisch, um es haltbarer zu machen, gut eingesalzen, eingewickelt und in der kleinen Tiefkühltruhe verstaut.
Es kam selten vor, dass es so große Beutetiere waren und deswegen war auch genug Platz in der Truhe. Der junge Mann jagte große Tiere nur, wenn das Fleisch ausging. Alles andere, was er brauchte, baute er sich selber an. Der Waldboden war gut und fruchtbar und sein kleiner Garten, einst angelegt aus Langeweile, ergab genug für ihn.
Er grinste bei dem Gedanken, dass er ebenso gut einfach in den Supermarkt der Stadt gehen könnte, um alles zu kaufen. Aber er wollte nicht, das jemand bemerkte, das er überhaupt da war.
Was nicht hieß, das er diesen Supermarkt noch nie betreten hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren nicht sehr streng und einbrechen seine leichteste Übung.
Doch letztlich war und blieb er ein bluttrinkendes Kind der Nacht. Es gab beinahe nichts außer vielleicht mal einem Stück Seife, einer Glühbirne, ein paar Kerzen oder eben Salz, das er aus einem Supermarkt brauchen könnte.
Der junge Mann warf dem bettelnden und seine Beine umschmeichelnden Kater ein paar der blutigen Brocken hin, reinigte seinen Arbeitsplatz und schaffte die Reste des Kadavers nach draußen, um sie zu vergraben, wie immer.

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DIONYSOS I. Zuflucht
VampiroDer Vampir Dionysos will nur seine Ruhe haben und in Frieden leben. Die Menschen und die Welt kümmern ihn nicht. Doch eine alte, fast vergessene Abmachung reißt ihn ebenso aus seiner Einöde wie der 18-jährige Garrett, der wie der Vampir im Wald nach...