28. Himmelstor

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Es war warm. So wunderbar warm, wo er doch eben noch so fürchterlich gefroren hatte. Und es war hell. Gleißend. Viel zu hell!

Unwillig presste er die Augen zusammen. Er wollte sie nicht aufmachen, sondern unter seiner warmen Decke bleiben.

Doch Moment... er lag doch gar nicht im Bett! Er war draußen, auf der Straße. Hatte gekämpft.

Nun riss er doch die Augen auf und stand in einem Meer aus... nichts. Nur Licht.

Nein! Er konnte unmöglich... doch er fühlte sich so geborgen, so sicher. Vielleicht war es gut so? Wem hatte er genutzt?

Etwas zwickte in seinem Gehirn. Ein vager Gedanke, eine Erinnerung, die er nicht greifen konnte.

»Toll hingekriegt, Garrett. Tot bist du!«, murrte er und sah an sich runter. Er sah aus wie immer. Nur ohne das Blut und die Schmerzen.

»Garrett...«

Seine Augen weiteten sich beim Klang der vertrauten Stimme und er drehte sich um.

»Mama!«, schluchzte er und fiel der Frau in die Arme. Sie hüllte die langen Ärmel ihres Gewandes um ihren Sohn und wiegte ihn, während er sich an ihr festklammerte.

»Es tut mir leid. Es ist alles meine Schuld«, weinte Garrett, doch sie lächelte nur.

»Es ist alles gut, Garrett. Mir geht es gut, glaub' mir.«

»Ich vermisse dich so schrecklich. Und Dad auch. Und jetzt... ich bin so dumm. Jetzt ist Dad ganz allein.«

Madelyn wischte ihrem Sohn mit dem Ärmel die Augen und das Gesicht trocken, während Garrett sie betrachtete. Sie war schön, jung und sah so zufrieden aus. Als sie lebte, hatte sie immer Stress und sah müde aus.

»Es tut mir leid, dass ich dir immer Ärger gemacht habe...«

»Nein. Ich hätte von Anfang an stolz auf dich sein sollen, weil du immer deinen Weg gegangen bist. Doch das ist jetzt nicht wichtig. Du gehörst hier nicht her.«

»Wie?«

Madelyn lächelte, es wirkte traurig, und sie strich Garrett eine Haarsträhne hinter das Ohr.

»Du hast jemanden zurückgelassen, als du herkamst.«

Sie machte eine Handbewegung und in dem Meer aus Licht erschien ein Bild wie auf einer Leinwand. Es zeigte den Kirchplatz, ihn selbst blutverschmiert und leblos und den Mann, der ihn im Arm hielt, flehte und weinte.

»Henry«, flüsterte Garrett und eine einzelne Träne rann ihm über die Wange.

Er weinte um ihm? Jetzt wurde auch die vage Erinnerung greifbar. All die Stunden voller Lachen und Zärtlichkeit, die sie miteinander verbracht hatten. Der Wunsch, immer bei ihm zu sein und ihn niemals zu verlieren.

Garrett schluchzte. Er war ein Narr! Er hatte ihm etwas beweisen wollen und war gescheitert. Jetzt war er für immer verloren.

»Deine Zeit ist noch nicht da, Garrett. Doch die Entscheidung liegt bei dir. Bleibst du hier, wird dein Körper dort unten sterben. Gehst du zurück, werden wir uns für viele, viele Jahre nicht wiedersehen.«

Garrett wandte seine tränenverhangenen Augen seiner Mutter zu und schniefte. »Ich kann nicht...«

Seine Mutter lächelte. »Ich weiß.«

»Wenn ich jetzt hier bleibe, wird er daran zerbrechen. Gerade jetzt, wo er einen Teil seiner Menschlichkeit zurückerlangt hat... und außerdem...«

»Ich weiß«, sagte seine Mutter wieder. »Liebe ist immer stärker als der Tod.«

»Sag' das mal Dad.«

DIONYSOS I. ZufluchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt