Es dauerte bis zur Abenddämmerung, als die Lähmung in Dionysos' Körper endlich nachließ und er wieder aufstehen konnte.
Anfangs noch wackelig, hatte er die Kontrolle über sich sehr schnell wiedererlangt.
Anouk hatte sich einmal mehr ihrem wahren Alter entsprechend verhalten und ein kräftiges Essen für alle zubereitet. Dionysos schlang es wie ein Verhungerter runter, ohne groß zu merken, was er aß.
Belladonna entzog dem Körper Nährstoffe, ähnlich wie ein Alkoholrausch, und der Betroffene litt an Hunger und Durst.
»Wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte er zwischen zwei Bissen und sah seine Kameraden an.
»Zuletzt vermutete ich sie im alten Sägewerk westlich. Doch vielleicht haben sie ihr Versteck auch bereits verlegt.« Phil, der deutlich manierlicher aß als Dionysos, sprach leise.
Dionysos biss kopfschüttelnd ein großes Stück aus einem Brötchen und schluckte das trockene Brot krampfhaft runter.
»Nein. Allister will den Kampf, genau wie ich. Der läuft nicht mehr weg. Nicht umsonst hat er sich meines einzigen Schwachpunktes bemächtigt. Ich mache mir nur Sorgen, was es für Garrett bedeuten würde, wenn ich unterliegen sollte. Die Vorstellung, dass Allister ihn zu einem Teil seiner Sippe macht...« Der Vampir zerbröselte das Brötchen in seiner geballten Faust.
»Es würde Respekt und Zuneigung erfordern, damit Garrett in dieser Sippe bliebe. Das ist nicht gegeben...«
»Dann eben als Sklave oder als Blutspender. Ich will generell nicht, dass er zu einem Vampir wird. Schon gar nicht durch Allisters verdorbenes Blut. Dem Blut des Sohnes einer Hure!«
Dionysos' Kameraden seufzten und wandten sich wieder dem Essen zu, bis Anouk aufmerkte.
»Du sagst das oft. Betonst es. Dass Allisters Mutter eine Dirne war. Ich dachte, sein Vater wäre ein Graf gewesen?!«
Dionysos nickte. »Du bist zu jung, um das zu wissen. Das war ein großer Skandal in den 1770ern, als der alte Duke of Holdernesse nach dem Tod seiner Gemahlin den kleinen Sohn einer stadtbekannten Edelhure bei sich aufnahm und ihn kurz darauf als seinen leiblichen Sohn anerkannte. Abstreiten konnte er es ohnehin nicht, da der kleine Allister eine frappierende Ähnlichkeit mit Holdernesses älterem Sohn Herbert hatte. Dass die von einem Vater waren, konnte jeder sehen. Für die Gesellschaft war das jedoch ein Skandal. Dass ein hochrangiger Lord das uneheliche Ergebnis einer Liebelei mit einer Hure in sein Haus holte und dann erwartete, dass dieser von der Gesellschaft normal behandelt wurde. Allister genoss die besten Schulen, war in Eaton, in Stoneyhurst und studierte in Cambridge. Doch wirklich einer von ihnen war er wohl niemals. Der Makel seiner Mutter haftete immer an ihm. Vielleicht ist er deswegen so versessen auf den Stand, den er in seinen Augen haben sollte. Dass seine Jugend so war, tut mir leid für ihn. Doch die spielt keine Rolle. Nicht einmal meine leichtfertig getroffene Abmachung damals. Einzig die Gegenwart zählt, und in der hat er Menschen getötet beziehungsweise ihren grausamen Tod durch die Ghoule in Kauf genommen. Er hat getötet, um mich zu quälen, nicht um sich zu nähren. Und er hat Garrett verletzt, mental und physisch. Ich weiß, dass er damit nicht aufhören wird, deswegen ist sein Tod die einzige Lösung.«
Anouk hatte neugierig zugehört. »Ich hätte gedacht, Allister wäre älter.«
Dionysos schüttelte den Kopf. »Es dürften etwas an die 250 Jahre sein. Genau weiß ich es nicht. Ich hatte vom Duke nur soweit Kenntnis, wie seine oder die Eskapaden seiner Söhne in die Presse gelangten. Allerdings... ich erinnere mich an eine Anzeige aus der Times. 1797 dürfte das gewesen sein, da wurde bekanntgegeben, dass Holdernesses jüngster Sohn, eben Allister, vermisst wird. Vermutlich war das die Zeit seiner Verwandlung. Er dürfte damals um die 30, 31 gewesen sein. Die Presse spekulierte, er sei in die selben Milieus wie seine Mutter abgerutscht. Wie sie halt sind. Geier gab es damals schon. Der alte Holdernesse ist im selben Jahr gestorben, Herbert erbte den Titel und brachte fast alles durch mit Prostituierten und Pferderennen.«
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DIONYSOS I. Zuflucht
VampirDer Vampir Dionysos will nur seine Ruhe haben und in Frieden leben. Die Menschen und die Welt kümmern ihn nicht. Doch eine alte, fast vergessene Abmachung reißt ihn ebenso aus seiner Einöde wie der 18-jährige Garrett, der wie der Vampir im Wald nach...