Das Haus der Novizen - 1

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„Aufstehen!"
Der durchdringende Ruf riss Sirion aus dem Schlaf. Er fuhr in die Höhe und verlor das Gleichgewicht, als die schnelle Bewegung seine Hängematte ins Schwanken brachte.
Polternd stürzte er und schlug hart auf dem Holzboden des Schlafsaales auf.
Schmerzenstränen weg blinzelnd hob er den Blick. Mit dumpfem Knallen schritt ein Paar schwerer Stiefel festen Schrittes an ihm vorbei. Mit leisem Stöhnen hob Sirion die Hand an die Stirn. Sein Kopf dröhnte und ihm war, als würde sich die Hängematte immer noch unter ihm drehen.Wie viel Beerenwein war das in der letzten Nacht gewesen?

„Aufstehen!", rief der Krieger, der eben an ihm vorbei gegangen war, erneut und Sirion hörte, wie um ihn her die anderen Novizen sich hektisch aus ihren Hängematten schälten.
Sirion rappelte sich in die Höhe und sah sich mit schwirrendem Kopf um. Er war deutlich nicht der Einzige, der übernächtigt wirkte und Kopfschmerzen litt. Neben ihm hielt sich ein blonder Elf schwankend an einem der Balken fest, die das Dach über ihnen trugen. Schräg gegenüber erkannte er einen reichlich blassen Alvad und eine zerzauste Alvia. Wie lange sie noch ihre Aufnahme unter die Krieger gefeiert hatten, konnte er bei bestem Willen nicht mehr sagen.
Doch tatsächlich gab es auch einige Novizen, die stramm und aufrecht da standen und den eingetretenen Krieger mit aufmerksamen Blicken verfolgten, während dieser mit knirschender Rüstung die beiden Reihen an Hängematten entlang schritt.

Eine schwarzhaarige Elfe, die die allererste Hängematte an der Tür belegt hatte, ignorierte das Durcheinander um sie her vollkommen. Ihr gegenüber stand ein Elf mit rötlichbraunem Haar. Sirion zuckte irritiert zusammen, als er dem Blick des Jugendlichen begegnete. Er hatte ihn noch nie gesehen und dennoch lagen die Augen des Elfen voller Hass auf ihm. Verwirrt runzelte er die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, ob er dem Novizen schon einmal begegnet war. Aber es wollte sich keine Erinnerung einstellen. Allerdings trübte der Beerenwein noch immer sein Denkvermögen.

Schließlich wandte er seinen Blick dem Krieger zu, der sie geweckt hatte. Der schwarzhaarige Mann stand nun mit verschränkten Armen an der Stirnseite des länglichen Schlafsaales und blickte kritisch über die verschlafenen Novizen. Die Erfahrung vieler Jahre sprach aus seinem Gesicht, über das sich quer eine wulstige Narbe zog. In voller Rüstung und bewaffnet mit Schwertern und Bogen ging eine dunkle Aura der Gefahr von ihm aus. Sirion zweifelte keinen Moment daran, dass der Mann jederzeit zu einem tödlichen Angriff übergehen könnte.
„Novizen der Nachtkrieger, kniet nieder zum Gebet!", erhob sich nun dessen Stimme über das allgemeine Gepolter und Gemurmel der erwachenden Novizen.
Augenblicklich kehrte Stille ein und die Jugendlichen sanken gehorsam auf die Knie, während das Gebet an die Mondgöttin Arvia intoniert wurde, welches für die Krieger den Beginn jeder Nacht markierte.

„Arvia,
in Demut verneigen wir uns vor dir.
Treu wollen wir dem Weg folgen,
den du uns gewiesen hast,
und so unserer Kaste Ehre bringen.
Leite unsere Waffe im Kampf,
auf dass wir uns voller Mut jeder Gefahr stellen.
Der Wahrheit und Gerechtigkeit wollen wir dienen,
vom Moment unserer Geburt bis zu unserem Tod.
Führe uns durch diese Nacht,
dass wir deiner Güte würdig werden."

Andächtige Stille folgte, als die letzten Worte des Gebets im Dachgebälk verklangen. Sirion hob den Kopf zu einer Dachluke hin, durch die das vergehende Abendlicht hinein fiel. Die Nacht war noch nicht ganz angebrochen.

„Folgt mir, Novizen!", erklang die Stimme des Kriegers erneut und mit festen Schritten verließ er den Schlafsaal.
Sirion sprang eilig in die Höhe und mühte sich, rasch in seine Stiefel zu kommen. Die schwarzhaarige Elfe, die ihm eben schon aufgefallen war, marschierte dagegen bereits nach draußen. Auch die anderen Novizen drängten zum Ausgang des Schlafsaales, die Ersten verfielen bereits in Laufschritt.

Sirion warf einen kurzen Blick über die Schulter, wo er Alvad und Alvia neben einem hochgewachsenen, blonden Elfen erkannte. Mit einem Wink bedeutete Alvad Sirion, weiter zu gehen, worauf dieser sich nach vorn wandte und sich direkt vor dem Rothaarigen wiederfand.
Der Elf maß ihn mit überheblichem Gesichtsausdruck und verschränkten Armen von oben bis unten. Tiefste Abneigung blitzte in seinen schwarzen Augen auf. Verwirrt erwiderte Sirion den Blick, er konnte sich dieses seltsame Verhalten einfach nicht erklären.

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt