Mit raschen Schritten lief Thorasal durch das Elfendorf. Den ganzen Tag hatte er damit verbracht, am zentralen Baum der Waldelfensiedlung die Schnitzereien zu verkaufen, die seine Familie im letzten Winter angefertigt hatte. Mittlerweile war er müde und hungrig und wollte einfach nur noch nach Hause.
Sie hatten eine Bleibe am Rande des Dorfes gefunden, wie so oft, niemand würde sie je im Mittelpunkt einer Elfenstadt dulden.
Fort vom Stamm des zentralen Baumes ging er, hindurch zwischen hohen Wurzeln, die sich bogengleich über die Pfade des Dorfes schwangen. Unter ihnen bauten die Waldelfen ihre Häuser, nutzten den Schutz der Baumwurzeln für ihre Siedlungen. Unberührt von den Händen der Waldelfen rauschten weit über ihm die Kronen der Bäume der Wind. Dort in luftiger Höhe bauten sie keine Häuser, nur in den niedrigen Regionen des Baumstammes und an den Wurzeln siedelte dieses Volk.
Lampions unterschiedlichster Art, geflochten aus Zweigen und verkleidet mit Blättern schmückten die Wurzelgänge durch die Thorasal schritt. Manchmal musste er den Kopf einziehen, um sich nicht an den niedrigeren Wurzeln zu stoßen. Heimeliges Licht schien aus den Fenstern der Elfenbehausungen. Farnblätter oder die Zweige hoher Hecken beschatteten die Wege und Thorasal hätte ohne Mühe die Pflanzen mit ausgestreckten Händen berühren können.
Doch er beachtete sie nicht. Kein Auge hatte er für die Schönheit der Elfensiedlung. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lief er eilig weiter.
Zu sehr erinnerten ihn all die Bäume, die Farne, die Hecken, das Lied der Waldvögel und das Keckern der Eichhörnchen über ihm an seine Schwester. Viele Jahre waren vergangen, seit Larina gestorben war, doch der Schmerz war noch immer so nahe wie damals. Thorasal war schon lange kein Kind mehr, ein junger Erwachsener war er mittlerweile. Und seine 98 Jahre Leben hatten ihn eines gelehrt, das Leben eines Alben war hart. Niemanden gab es, auf den sie sich verlassen konnten, sie waren auf sich gestellt. Für die Elfen, die sein Volk hassten, hatte er nicht mehr als Verachtung übrig, da konnte sein sanfter Vater so viel von Versöhnung der Völker reden, wie er wollte.
Elfen hatten seiner sterbenden Schwester ihre Hilfe verweigert. Dank dieser großohrigen, kurzlebigen Plage hatte er Larina verloren, als sie noch am Anfang ihres Lebens gestanden hatte.
Auch jetzt mieden die Elfen ihn. Diejenigen, an denen er vorbei kam, wichen ihm aus, musterten ihn mit angewidertem Blick oder bleckten angriffslustig ihre spitzen Zähne. Er war hier ein Außenseiter, nur geduldet, und das gaben sie ihm ständig zu spüren.
„He, Junge!", erklang da eine krächzende, hohe Stimme neben ihm. „Wieviel für den Löffel da?"
Thorasal drehte sich um und sah nach unten. Neben ihm stand eine verhutzelte alte Elfe, die Ohren vom Alter herab gebogen, die Haut faltig und der Rücken gebeugt, die Augen jedoch sahen ungetrübt zu ihm empor. Sie war noch deutlich kleiner als die anderen Elfen, die Thorasal meist knapp bis zur Schulter gingen.
„Was?", fragte er kurz angebunden.
„Der Löffel da!", wiederholte sie und deutete auf den Holzlöffel, der aus seiner Tasche ragte, „Wieviel willst du dafür haben?"
„Zwei Hirsche", erwiderte Thorasal lediglich und die alte Frau kramte zwei der aus Hirschgeweih geschnittenen Münzen hervor, mit denen die Waldelfen zahlten.
„Hast du heute gut verkauft?", fragte sie, als sie den Löffel von Thorasal entgegen nahm.
„Was geht dich das an?", schnappte Thorasal kurz angebunden. Was steckte diese Elfe ihre Nase in seine Angelegenheiten?
Die Frau zuckte die Schultern und steckte den Löffel ins graue Haar hinter einem ihrer Ohren.
Ohne ein weiteres Wort mit der Alten zu wechseln, wandte Thorasal sich ab, verstaute das Geld, und lief weiter. Sein Ziel war die Hängebrücke, die sich über den nahen Bach spannte und zu dem Außenbezirk des Dorfes führte.
„Ah, du willst zum Bach", stellte die alte Frau fest und lief ihm hinterher. „Da kann ich dich wohl begleiten. Meine Enkelin müsste dort irgendwo sein."
Thorasal verdrehte die Augen. Kurz blickte er hinter sich, zu der ihm folgenden Elfe, und erhöhte sein Tempo. Er wollte mit der Frau nichts zu tun haben.
Tatsächlich gelang es ihm, dass die Alte ihn nicht einholen konnte, und so erreichte er bald das Bachufer, wo sich eine lange Brücke über das gurgelnde Wasser spannte.
Er hielt inne und ließ den Blick den Bachlauf entlang schweifen. Ein Fehler, denn schneller, als er gedacht hatte, stand die Alte neben ihm.
„Ah da hinten ist meine Enkelin.", stellte sie fest, ihre krächzende Stimme übertönte penetrant das Rauschen des Wassers, „Und ist das da nicht dein Bruder?"
Zum ersten Mal wirklich interessiert an dem, was die Elfe sagte, drehte Thorasal den Kopf. Am gegenüberliegenden Bachufer saßen ein Junge und ein Mädchen beisammen auf den moosbewachsenen Steinen und ließen die nackten Füße ins Wasser baumeln. Das hell perlende Lachen des Mädchens drang zu ihnen hinüber, doch Thorasals Augen waren auf den Jungen neben ihr geheftet. Das Fehlen der übergroßen elfischen Ohren war ein unübersehbarer Hinweis, zu welchem Volk er gehörte, obwohl er seine volle Größe noch nicht erreicht hatte und daher die Elfe kaum überragte.
„Teseph!", rief Thorasal scharf und sein Bruder sah erstaunt zu ihm hinüber.
Thorasal ballte wütend die Fäuste. Was trieb sich sein Bruder mit Elfen herum? Die Elfen waren ihre Feinde!
Mit raschen Schritten überwand Thorasal die Brücke, die Stirn im Zorn zerfurcht. Die kleine Elfe sprang auf, als sie den Alben auf sie zustürmen sah. Er konnte nicht hören, was sie zu Teseph sagte, dann floh sie, so schnell sie konnte.
„Hallo Thorasal", grüßte Teseph ihn und strich sich das blonde Haar in aller Seelenruhe hinters Ohr. Seine dunklen Augen folgten der Elfe, bis sie außer Sicht war.
Wutschnaubend packte Thorasal seine Hand. Teseph war bei weitem kein kleines Kind mehr, das an der Hand geführt werden musste, aber das war ihm jetzt egal. „Komm mit nach Hause.", knurrte er gereizt und zog den Jungen mit sich.
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Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende Wald
FantasíaDer junge Nachtelf Sirion wurde in die Kriegerkaste seines Volkes hinein geboren. Und so beginnt er, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist, die entbehrungsreiche Ausbildung zum Fledermausreiter. Doch in den Jahren seiner Ausbildung zum Krieger ver...