Vorsichtig zurrte Sirion die lederne Schablone um den Unterarmschoner fest. Die Knoten mussten gut sitzen, das Leder durfte bei dem diffizilen Ätzprozess nicht verrutschen. Ein letztes Mal überprüfte er den Sitz, dann legte er den Schoner auf die steinerne Arbeitsplatte.
Dies war das letzte Stück seiner Rüstung, das fertig gestellt wurde. Kaum konnte er glauben, dass er nun nach monatelanger Arbeit und einigen Rückschlägen am Ziel war.
Vor Aufregung war er schon ganz hibbelig, doch er zwang sich zur Ruhe. Einen letzten prüfenden Blick warf er auf den Schoner, dann zog er seine dicken Handschuhe aus Leder an und richtete seine Schürze. Hepharo reichte ihm den irdenen Krug mit der Säure. Hergestellt aus Gestein, dass ebenfalls bei Rukaya abgebaut wurde, konnte diese Flüssigkeit feine Spuren in Eisen brennen oder auch furchtbare Verletzungen verursachen.
Hochkonzentriert goss Sirion die Säure über den Schoner, versuchte, jede Stelle gleichmäßig zu erreichen. Von einer Sammelrinne am Rand der Arbeitsplatte geleitet, floss die Flüssigkeit zu einem Auffangbehälter.
Der Prozess dauerte nur kurz, da Sirion die Lederschablone nicht lange belasten konnte. Er stellte den Krug beiseite und befreite den Schoner vom Leder. Dann tauchte er ihn umsichtig in einen Eimer mit Wasser, um überschüssige Säure abzuspülen.
Stolz betrachtete er sein Werk. Grazil ineinander verschlungene Ornamente zeichneten sich mit einem leichten Schimmern auf dem schwarzen Eisen ab. Fledermäuse im Flug spannten einen Bogen um Schutzzeichen, umspielt von Ranken und Blättern. Atemlos blickte Sirion darauf, war es doch schöner, als er es sich je hätte vorstellen können. Sein Herz klopfte wild und er drehte sich langsam zu Hepharo um, der ihm mit stolzem Lächeln zunickte.
„Gut gemacht", lobte der Schmied ihn, dann wandte er sich der Runde Novizen zu.
„Ein Novize hat seine Rüstung fertig gestellt!", rief er laut, die Worte, welche in den letzten Nächten bereits einige Male erklungen waren.
Alle unterbrachen ihre Arbeit und drehten sich um zu Sirion, der glühend vor Stolz nun mit dem Unterarmschoner in der Hand Hepharo zu der Kammer folgte, wo sowohl die Werkzeuge als auch die Rüstungen gelagert wurden.
Erst als Sirion dort auf einem Regal seine Rüstung stehen sah, wurde ihm vollends klar, dass er es geschafft hatte. Die Blicke aller anderen Novizen im Rücken legte er das letzte Rüstungsteil dazu und deckte dann die Rüstung sanft mit einem schwarzen Tuch ab, auf das das Emblem seiner Kaste gestickt war, wie vor ihm bereits Torren, Nymo, Femkana, Lelia und Larsol.
Einen Moment sah er immer noch etwas ungläubig auf die nun verdeckte Rüstung hinab. Der Augenblick, von dem er geträumt hatte, seit er als kleiner Junge die Rüstung seines Vaters bewundert hatte, war endlich gekommen.
Mühsam riss er sich von dem Anblick los, dann ging er mit Hepharo in die Schmiede zurück. Kurz suchte er Alvads Blick, doch der beugte sich wieder mit verbissener Miene über seine Arbeit.
„Es war mir eine Ehre, mit dir zu arbeiten, Sirion", sagte Hepharo an ihn gewandt, „Diese Rüstung wird dir gute Dienste leisten."
Lächelnd verbeugte er sich vor Sirion, der die Verbeugung noch etwas tiefer erwiderte. „Hab Dank, Hepharo", antwortete er, „Ohne deine Hilfe hätte ich es nie geschafft."
Mit einer kurzen weiteren Verbeugung verabschiedete Sirion sich und verließ die Kriegsschmiede.
Tief atmete er durch, kaum, dass sich die Tür der Schmiede hinter ihm geschlossen hatte. Einen Moment lang stand er nur da, die Augen geschlossen und genoss die Erleichterung und den Stolz. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln schlenderte er zurück zum Haus der Novizen.
Zum ersten Mal seit Monaten hatte er Zeit und musste nicht zum nächsten Unterricht hetzen. Ach, wie herrlich war es Freizeit zu haben. Fast hatte er vergessen, wie sich das anfühlte.
Bis alle ihre Rüstungen fertig gestellt hatten, hatte er die Zeit, die der Rest in der Schmiede verbrachte, zur freien Verfügung. Sobald dann alle fertig waren, würden die Rüstungen in feierlicher Zeremonie von den Mondtöchtern geweiht werden.
Doch bis dahin...
Das Haus der Novizen kam in Sicht. Was sollte er jetzt machen?
Sirion lachte, er wusste tatsächlich im ersten Moment nichts mit sich anzufangen. Dann jedoch lenkte er seine Schritte in Haus und die Treppen nach oben bis unters Dach, wo er im Schlafraum sich für ein wohlverdientes Nickerchen in seine Hängematte fallen ließ.In der ersten Nacht genoss Sirion noch seine neu gewonnene Freiheit in vollen Zügen. Die Zeit, die er nun zwischen Training und Unterricht hatte, erschien ihm schier endlos.
Als er dann in der zweiten Nacht jedoch Nymo, Femkana, Larsol und Lelia in die Bibliothek verschwinden sah, besann er sich auf den Unterricht von Tuular und Clya, die ja auch für ihn noch stattfanden. Gerade Clya hatte ihnen wieder einen komplizierten Aufsatz aufgebrummt und so beschloss Sirion, seine freie Zeit ebenfalls in der Bibliothek zu verbringen.
Tatsächlich hatten die anderen vier an ihrem Tisch noch einen Platz für ihn frei. „Willkommen im Lernkreis", brummte Larsol, als Sirion sich zu ihnen setzte. „Woran arbeitet ihr?", erkundigte sich Sirion, „An Clyas Aufsatz?"
Doch Lelia schüttelte den Kopf. „Den haben wir bereits alle fertig und abgegeben."
Sie entfaltete gerade eine riesige Zeichnung des Fledermausskeletts. „Upps, tschuldigung Sirion", murmelte Nymo, als die fast tischgroße Zeichnung Sirions Unterlagen überdeckte und er schob sie etwas beiseite. Femkana warf Sirion einen kühlen Blick quer über den Tisch zu. Sie hielt sich nach wie vor an Eynar und ging ihm meistens aus dem Weg. Auch Eynar und Sirion waren zu der stillen Abkunft gekommen, einander zu ignorieren.
„Hast du die Liste mit Knochenbrüchen und den Verbandsmöglichkeiten?", fragte sie nun Larsol, der ein Buch aufschlug, und diskutierend beugten die vier sich über die Zeichnung.
Seufzend zog Sirion seinen begonnenen Aufsatz hervor. Tatsächlich wäre es ihm lieber, die verschiedenen Arten, gebrochene Knochen einer Fledermaus zu pflegen, zu lernen. Aber dies hier war nun drängender.
Im Auftrag Clyas mussten sie den Opferritus an die Göttinnen beschreiben, der immer zu Mitternacht in der Stadt vollführt wurde. Denn diese täglichen Gebete und Rituale zu leiten, war auch Aufgabe der Kaste Arvia. Die Tatsache, dass Clya noch eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung dieses Ritus' forderte, machte die Sache nur deutlich schwerer.
Mit zusammengekniffenen Augen las Sirion durch seinen dahin gekritzelten Text. Es war vielleicht nicht besonders ausgefeilt, aber er hatte soweit alles, was den Ritus betraf, wie er heutzunacht durchgeführt wurde. Nun fehlte ihm noch der geschichtliche Vergleich.
Er zog seine Notizen hervor und blätterte durch, auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Doch bei dem Gequassel der anderen über Brüche des Oberarmknochens und, ob nun Wadenbein oder Schienbein der empfindlichere Knochen war, fehlte ihm zusehends der Nerv, sich aus seinen halbherzigen Notizen etwas zusammen zu klauben. Was ihm fehlte, war ein Buch, das ihm die Informationen, die er brauchte, zusammen fasste. Also erhob er sich und ging zum Regal der Glaubenslehre, wo er doch hoffentlich etwas finden würde.
Suchend fuhren Sirions Finger über die Buchrücken und Pergamentrollen in dem Regal vor ihm, ob irgendwo etwas Brauchbares für seinen Aufsatz zu finden war. Hunderte Bücher fasste allein die Sammlung zur Glaubenslehre hier in der Bibliothek. Gebetssammlungen, mehrere Kopien der heiligen Texte und Liedzyklen waren hier zu finden, aber auch Bücher, die sich allein mit Abhandlungen über einer der drei Göttinnen befassten, Schriftrollen zur Auslegung der heiligen Texte, Leitfäden zum Leben nach den Worten der Göttinnen, aber auch dutzende Bücher zu den Gebetsritualen und alljährlichen Festen.
Hoffnungsvoll zog Sirion eine Pergamentrolle mit der Aufschrift „Ablauf des nächtlichen Gebets hervor". Doch ein kurzes Überfliegen zeigte ihm, dass er diese Informationen bereits abgehandelt hatte. Seufzend legte er sie wieder zurück. Er hatte sich bestimmt schon ein Dutzend Bücher und Schriftrollen angesehen, als Celurean, der Bibliothekar, neben ihn trat.
„Suchst du nach etwas Bestimmten?", erkundigte er sich hilfsbereit und Sirion nickte. Auf die Idee, Celurean um Hilfe zu bitten, hätte er früher kommen können.
Rasch erklärte er dem Bibliothekar die Aufgabe, die Clya gestellt hatte und wonach er suchte.
„Oh, das ist sehr speziell", meinte dieser und ließ den Blick nachdenklich über die Regale schweifen.
„Ich könnte dir vielleicht ein paar Bücher geben, die dir da helfen, aber ein Buch genau zu diesem Thema...", er schüttelte den Kopf, „Das werden wir hier wohl nicht haben."
Etwas geknickt senkte Sirion den Kopf. So viel zu dem Thema, er könnte sich die Aufgabe mit einem einzelnen Buch erleichtern.
„Aber ich kenne einen Händler aus Ruka, der einen kleinen Buchladen besitzt", fuhr Celurean bei Sirions Anblick mit einem milden Lächeln fort, „Er ist spezialisiert auf die Synergien aus Geschichtsschreibung und Glaubenslehre. Vielleicht kann er dir helfen."
Dankend ließ Sirion sich die Wegbeschreibung zu dem Laden geben, dann, nach einem kurzen Blick zum Stundenglas, packte er eilig seine Sachen zusammen. „Wir sehen uns später", sagte er zu der Gruppe um Nymo, die ihn irritiert beobachteten, dann stürmte er davon.
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Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende Wald
FantasyDer junge Nachtelf Sirion wurde in die Kriegerkaste seines Volkes hinein geboren. Und so beginnt er, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist, die entbehrungsreiche Ausbildung zum Fledermausreiter. Doch in den Jahren seiner Ausbildung zum Krieger ver...