Schwärmerei - 2

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Zähneknirschend saß Sirion an seinem Platz, um ihn her alles leer und still. Vor der Bibliothek meinte er das Trappeln von Füßen auf der Treppe zu hören, während seine Freunde hinab ins Erdgeschoss eilten. Einsam und ausgegrenzt fühlte er sich mit einem Mal und genau das war es, was Meisterin Gylledh beabsichtigt hatte. Ein Krieger, der nicht nach dem Kodex der Kaste handelte und sich unehrenhaft verhielt, durfte nicht auf den Schutz und die Loyalität seiner Gefährten hoffen.
Mit hängendem Kopf sammelte er seine Notizen und Übungen ein. In Gedanken war er immer noch bei Eynar. Dass diesem die Vorführung beim Fest zur Sommersonnenwende nicht untersagt worden war, erfüllte Sirion mit heißer Wut. Jetzt schon konnte er Eynars selbstgefällige Miene sehen und meinte bereits zu hören, wie dieser sich mit dem Auftritt brüstete. Sicher wäre da dann auch ein Kommentar dabei, dass Sirion eines solchen Auftrittes einfach nicht würdig war.
Zornig schlug Sirion sein Notizbuch zu und stopfte es in die Tasche.
Am liebsten wäre er aus dem Haus gestürmt und hätte die erzwungene freie Zeit mit einem langen Lauf in der Stadt verbracht, bis er vollkommen erschöpft und außer Atem in der Morgendämmerung wieder heim gekommen wäre.
Doch das wäre unklug.
Seufzend rutschte Sirion ans Fenster heran und spähte nach draußen, wo er tatsächlich einen relativ guten Blick auf den Vorhof hatte. Dort stellten die anderen sich gerade auf.
Sylires heller Haarschopf leuchtete deutlich zu ihm empor. Neben ihr erkannte er die gedrungene Gestalt Runams, die Nymo gegenüber stand.
Sirion suchte einen Moment in seiner Tasche, bis er die sorgsam gefalteten Pergamente fand, auf denen er in den letzten Tagen und Wochen bis ins kleinste Detail jede der Schwertformen notiert hatte.
Nun zog er sie wieder hervor und zückte seine Feder, bereit seine Aufzeichnungen zu ergänzen und zu korrigieren, während er die anderen beobachtete.
Es war eine sehr mühselige Arbeit, doch war es seiner Meinung nach die beste Art, seine freie Zeit zu verbringen. Zusätzlich dazu hatte er Meister Celurean um ein Buch zu den Schwertformen gebeten und am frühen Morgen, wenn die meisten der Novizen noch schliefen, glich er seine Notizen mit dem Inhalt des Buches ab und nutzte die leere Bibliothek, um die Abläufe der Formen zu üben.
Er hatte nicht vor, wegen eines dämlichen Streites mit Eynar die Prüfung nicht zu bestehen.
Am Fenster kauernd runzelte er konzentriert die Stirn, um ja nichts zu verpassen. Aufmerksam verfolgte er jede Bewegung, die Runam und Nymo machten, während er immer wieder auf seinen Notizen nachschaute, ob er auch alles richtig notiert hatte.
Schließlich brachten Runam und Nymo die ersten vier Formen zu Ende und begannen mit der fünften Form. Diese hatten sie erst gelernt, nachdem Sirion und Eynar vom Unterricht ausgeschlossen worden waren, daher beugte er sich nun noch etwas weiter vor, bis er mit der Stirn gegen die Fensterscheibe drückte.
Sirion war leider klar, dass bis zur Prüfung im Winter noch weitere Formen kommen würden, die er nur auf diese Art lernen konnte.
Rechter Fuß vor beim Schlag, der andere weicht aus...
Sirion warf einen Blick nach unten und fügte kurz die Anmerkung rechts zu seinen Mitschriften hinzu. Er hob den Blick, doch die anderen waren schon weiter.
Er unterdrückte einen Fluch. Nun würde er warten müssen, bis sie wieder von vorne anfingen.
Das Klacken des Türschlosses schräg hinter sich bemerkte er kaum. Erst, als sich Schritte näherten, warf er kurz einen Blick über die Schulter.
Und niemand anderes als Eynar stolzierte mit überheblichem Gesichtsausdruck die Bibliothek entlang. Sein Blick fiel auf den am Fenster kauernden Sirion und er ließ ein verächtliches Schnauben hören, bevor er sich ans andere Ende der Bibliothek verzog.
Sirion ballte die Hände zu Fäusten.
Was wagte der sich? Sie waren beide ausgegrenzt und noch immer verhielt er sich, als wäre er etwas Besseres.
Sirion verstand einfach nicht, warum man Eynar die Vorführung bei dem Fest erlaubte. Seiner Meinung nach musste dem Novizen eine gehörige Lektion erteilt werden.
Einen Moment lang die Novizen auf dem Vorhof und seine Notizen vollkommen vergessend, blickte er zu Eynar hinüber, der mit blasierter Miene ein Buch aus dem Regal zog, und ein vager Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an.
Nur drei Tage später saßen Sirion und Alvad wieder zusammen in der Bibliothek. Alvad hatte sich bereit erklärt, Sirion dabei zu helfen, seine Notizen zu den Schwertformen durchzugehen.
Erschöpft massierte sich Sirion die schmerzenden Schläfen. Er verbrachte momentan sehr viel Zeit in der Bibliothek. Mehr noch als seine Kameraden, da er ja nicht an Gylledhs Unterricht teilnahm. Um nicht bei den anderen Meistern auch noch in Ungnade zu fallen, kniete er sich mit Feuereifer in seine Studien zur Glaubenslehre und Kalligraphie.
Alvad unterdrückte ein Gähnen und ging zum wiederholten Mal Sirions Notizen durch. „Ich denke, wir haben alles...", meinte er. Dann sah er seinen Freund an. „Jetzt musst du das nur auswendig lernen", grinste er mit aufmunternd gemeinten Tonfall.
„Hmpf...", machte Sirion nur, der seine Frustration über die gesamte Situation nur schwer verbergen konnte, „Das ersetzt Meisterin Gylledhs Unterricht nicht im Geringsten. Meine Handhaltung könnte fehlerhaft sein, die Schwertneigung, die Schrittlänge..."
„Komm, wir können zumindest trocken hier schonmal üben", unterbrach Alvad seine Beschwerde und erhob sich.
Die beiden nahmen einander gegenüber Aufstellung und begannen mit den Bewegungsabläufen der ersten Form. Es fühlte sich seltsam an, die Form zu durchlaufen, ohne ein Schwert in der Hand zu halten, doch es stimmte, dass es Sirion zumindest etwas beruhigte.
Zweimal arbeiteten sie sich durch die Formen, bis Alvad schließlich ein weiteres Gähnen nicht verdecken konnte.
„So das reicht jetzt!", beschloss er, „Wir haben heute Nacht endlich mal frei und das sollten wir auch nutzen!"
„Aber...", machte Sirion matt und deutete auf den Stapel an Büchern, den er sich noch herausgesucht hatte.
„Nix aber,", sagte Alvad, „du musst den Kopf mal frei bekommen Sirion. Komm, wir gehen in die Stadt. Etwas frische Luft wird dir gut tun."
Mit einem Seufzen gab Sirion sich geschlagen. Doch innerlich war er eigentlich erleichtert. Und so ließ er sich von Meister Celurean die Bücher zurücklegen und folgte Alvad nach draußen.
Warme Sommerluft wehte ihm entgegen, geschwängert vom süßlichen Duft der silberweißen Blüten des Baumes, die sich im Schein der Monde öffneten. Wie kleine Sterne leuchteten sie als Erweiterung des Nachthimmels. Raschelnd warfen die Blätter ein tanzendes Schattenmuster auf die Häuser der Stadt und das Holz des Baumes, auf dem sie errichtet war.
Leuchtend und groß stand Synnvea am Himmel, so hell, dass die Elfen in dieser Nacht fast vollständig auf die Beleuchtung ihrer Stadt verzichteten. Arvia war nicht zu sehen und von Ruka war nur eine schmale Sichel gerade noch durch die Blätter hindurch auszumachen.
Die Stadt brummte vor Leben. Die kurzen, warmen Nächte des Sommers waren immer besonders geschäftig, denn viel Zeit blieb den dunkelheitsliebenden Elfen ja nicht, um ihren Besorgungen nachzugehen. Jeder liebte die lauen Temperaturen, die dicke Mäntel unnötig machten, sodass es alle nach draußen zog, an die lieblich duftende Luft. Die Fledermäuse waren in diesen Nächten besonders aktiv, denn der Wald war voller Beute und so konnten sie sich Speck für den Winter anfressen.
Sirion und Alvad verließen den Vorhof und mischten sich in den lebhaften Trubel auf den Wegen und Hängebrücken zwischen den Häusern.
Ohne ein wirkliches Ziel zu haben, ließen sie sich treiben und kamen so höher und höher.
„Schau mal Sirion!", rief Alvad und klopfte Sirion von hinten auf die Schulter. Sirion drehte sich um, wo sein Freund nach oben deutete.
Nur eine Elfenlänge über ihren Köpfen öffnete sich eines der Fluglöcher für die Fledermäuse im Baumstamm. Eine schlichte Strickleiter führte von dort auf den Weg hinunter.
„Da oben können wir uns ausruhen", schlug Alvad vor und Sirion nickte.
Wenig später erklommen die zwei Jugendlichen die Leiter und erreichten das Flugloch, welches bequem für vier junge Elfen Platz geboten hätte.
„Ah...", machte Sirion und ließ sich auf das Holz fallen. Er lehnte sich gegen den Rand des Lochs und streckte die Beine aus. Ein kurzer Blick über die Schulter offenbarte ihm die im Zwielicht liegende Fledermaushöhle im Inneren des Stammes. Sie war fast vollkommen verwaist, da die meisten der Tiere ausgeflogen waren, entweder zusammen mit ihrem jeweiligen Reiter oder alleine auf Beutezug. Kurz fragte er sich, ob wohl sein Vater zusammen mit Soro dort draußen in der Nacht gerade unterwegs war.
Mit tiefen Zügen die Nachtluft inhalierend machte er es sich bequem und blickte auf die Stadt unter ihnen hinab. Ein Geflecht aus Hängebrücken, Ästen, Treppen und Terrassen und Plätzen, auf denen die Häuser der Nachtelfen gebaut waren, lag ihnen zu Füßen, so hoch oben waren sie nun. Es tat gut, hier ein wenig abseits von all dem Trubel zu sitzen und zum ersten Mal seit langem, so schien es ihm, sich ein wenig von dem vielen Lernen ausruhen zu können.
„Weißt du, ob es möglich ist, dass Novizen unserer Kaste den Palast der Mondmutter betreten?", fragte Alvad in die Stille hinein.
Sirion drehte ihm den Kopf zu. Sein Freund blickte nachdenklich nach oben.
Nur noch ein kleines Stück von ihnen entfernt lag der Palast der Mondmutter, eingebettet in die Astgabelung zwischen drei mächtigen Ästen, in die sich der Stamm hier teilte. Hoch aufragende spitz zulaufende Giebeldächer ragten über dem Palast in die Höhe, getragen von grazilen Säulen, die um das Gebäude herum liefen. Hohe, weite Fenster erlaubten dem Licht der Monde ins Innere zu fluten. Das Holz, aus dem der Palast gebaut war, war derart bearbeitet, dass sich das silberne Licht von Sternen und Monden darin spiegelte, sodass er stets schwach zu leuchten schien. Wie eine von einer Aura aus Licht umgeben lag er dar, wunderschön und nicht ganz von dieser Welt, als hätten die Göttinnen selbst ihn erbaut.
„Ich glaube nicht...", erwiderte Sirion auf die Frage seines Freundes, „Der Palast ist nur der Mondmutter und den Mondtöchtern zugänglich."
Alvad seufzte. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich so gegen das Holz hinter ihm, dass er in der Lage war, schräg zu dem Palast hoch zu spähen.
„Ja, das habe ich befürchtet...", murmelte er.
Er schwieg einen Moment, dann sah er schuldbewusst zu Sirion hinüber.
„Ich krieg sie nicht aus meinem Kopf", gestand er.
„Wen?", fragte Sirion, auch wenn er bereits meinte, die Antwort zu kennen.
„Tjavis...", seufzte Alvad, der den Namen aussprach, als wäre er etwas unglaublich kostbares.
Sirion schmunzelte und betrachtete Alvad. Dieser sah mit verträumtem Blick zum Palast hoch. War da auf einem der Balkone eine Gruppe Frauen zu sehen? Vielleicht war ja Tjavis unter ihnen.
„Sie ist...", begann Alvad an und suchte einen Moment nach den richtigen Worten, „sie ist einfach... etwas besonderes..."
Er lachte leise und verlegen auf. „Ich kann nicht anders, Sirion. Ich will sie einfach wiedersehen."
„Du kennst sie doch kaum", hielt Sirion dagegen.
„Trotzdem... Sie ist das schönste Mädchen unter den Monden, das ich je gesehen habe. Ich meine, hast du ihre Haare gesehen? Und diese Augen! Ihr Lachen klingt wie Musik und...!"
Lachend hob Sirion die Hände. „Ja okay, ich hab verstanden. Dich hats erwischt.", erwiderte er.
Alvad knirschte mit den Zähnen. „Ja...", gestand er brummend.
„Den Mondtöchtern sind Liebesbeziehungen und eigene Familien untersagt", rief Sirion ihm sanft in Erinnerung.
Stöhnend fuhr Alvad sich über das Gesicht. „Erinner mich nicht dran!", rief er aus, „Trotzdem darf ich mir ja wünschen, sie wieder zu sehen, und mich einfach mit ihr zu unterhalten, oder?"
„Ja an einer Unterhaltung ist nichts Verbotenes", stimmte Sirion ihm zu.
Schweigend beobachteten sie das Treiben zu ihren Füßen, wobei Alvad dabei jedoch mehr mit verträumten Gesichtsausdruck zum Palast empor sah.
Plötzliches Rauschen von Flügeln riss sie beide aus ihren Gedanken.
„Platz da!"
Eine Fledermaus kam auf sie zugeschossen. Hektisch pressten die beiden sich an den Rand des Flugloches, als das Tier auch schon über ihnen war. Die scharfen Krallen seiner Klauen schossen beunruhigend nahe an Sirions Gesicht vorbei.
„Sagt mal, seid ihr noch bei Trost?", kam die zornige Stimme des Fledermausreiters aus der Höhle, wo die Fledermaus eben sich nahe des Flugloches einen Hängeplatz gesucht hatte.
„Was denkt ihr euch, ein Flugloch zu versperren?"
Die Gestalt eines Kriegers erschien hinter der Fledermaus. Geschickt kletterte der Mann am Höhlenrand entlang in Richtung der beiden Jugendlichen. „Ihr hättet ernsthaft verletzt werden können! Wie heißt ihr zwei?"
„Komm schnell!", zischte Alvad und im Nu sprangen die beiden von ihrem Ausguck hinunter und verschwanden im Gewühl auf dem Weg.
Mit raschen Schritten entfernten sie sich von der Stelle, wo eben der unbekannte Krieger im Flugloch auftauchte, um nach ihnen zu suchen. Doch sie waren schon seinen Blicken entschwunden.

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt