Thorasal

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Irgendwo in der Nähe plätscherte Wasser. Angestrengt lauschend folgte Thorasal dem Geräusch. Er war durstig und seine Trinkschläuche mussten dringend aufgefüllt werden.
Kaum einen Laut verursachten seine Füße auf dem weichen, mossbewachsenen Boden, während er durch den Wald ging. Über ihm zwitscherten die Vögel und hießen den Frühling willkommen, welcher endlich Einzug gehalten hatte.
Der junge Alb ging an den ersten Blumen vorbei, welche scheu die Köpfe dem Sonnenlicht entgegen reckten, das noch ohne Probleme durch das lichte Blätterdach des Waldes fiel. Die Hecken, die Thorasal teilweise überragten, trugen schon das zarte Grün knospender Blätter.
Langsam wurde es wärmer unter der erstarkenden Sonne und er blieb kurz stehen, um seinen Mantel zu öffnen und sein Gepäck zurecht zu rücken. Horchend drehte er den Kopf hin und her, versuchte herauszufinden, wo der Bach sich befand.
Schließlich wandte er sich nach rechts, bückte sich ein wenig, um unter mehreren umgestürzten Bäumen hindurch zu gehen, hinter denen der Waldboden anfing anzusteigen.
Das Geräusch fließenden Wassers wurde lauter und Thorasal folgte einige Zeit der Flanke des Berghanges. Er bog um eine Ecke und erblickte ein munter plätscherndes Bächlein, das zwischen Steinen und erblühenden Hecken, sich seinen Weg den Berghang hinab suchte.
Und da sah er sie.
Eine junge Frau, gekleidet in eine einfache knielange braune Tunika und Hose, saß auf einem der Steine und ließ die nackten Füße in das Wasser baumeln.
Ein Ast knackte unter Thorasals Fuß und sie hob den Blick. Ein paar dunkler Augen traf die seinen. Sie lächelte.
Erstarrt sah Thorasal sie an. Keine langen Ohren ragten seitlich aus ihrem Haar hervor und sie war nicht so klein wie das Elfenvolk. Sie war eine Albin.
Und sie war wunderschön.
Das Licht der Frühlingssonne glänzte auf ihrem honigblonden Haar, das leicht zerzaust auf ihre Schultern fiel. Ihr Lächeln breitete sich wie ein Leuchten über ihr gesamtes Gesicht aus und ließ ihre Augen funkeln. Voller Anmut neigte sie den Kopf in seine Richtung. Sämtliche Trauer und Einsamkeit seiner einsamen Wanderung waren bei ihrem Anblick wie weg gewischt.
„Hallo", sagte sie mit glockenheller Stimme.
Thorasal erwiderte ihren Blick, unfähig, etwas zu sagen. Ein seltsam heißes Gefühl breitete sich auf seinem Gesicht aus und er registrierte, dass seine Fingerspitzen zu beben anfingen.
Er öffnete den Mund und brachte nach einigen Mühen schließlich ein brüchiges „Hallo" hervor.
Die Albin schmunzelte. „Hast du nicht Durst?", fragte sie und deutete auf den Bachlauf zwischen ihnen, „Setz dich doch!"
Thorasal hatte den Bach vollkommen vergessen, fasziniert hingen seine Augen an der hübschen jungen Frau. Ohne darüber nachzudenken, folgte er ihrer Anweisung und sank auf die Knie hinab, als ihn plötzlich Misstrauen überkam.
Er hielt mitten in der Bewegung inne und sah sie wachsam an.
„Bist du Sidari?", fragte er mit scharfer Stimme.
Der warme Blick ihrer dunklen Augen ruhte eine Weile auf ihm. Dann schüttelte sie sacht den Kopf.
„Ich bin Fomori", erwiderte sie.
Langsam und etwas weniger wachsam ließ sich Thorasal auf den weichen Erdboden sinken.
Er setzte sein Gepäck ab und griff nach seinen Wasserschläuchen. Überdeutlich war er sich ihrer Anwesenheit bewusst, während er den ersten Schlauch auffüllte und dann etwas von dem klaren Wasser trank.
Nachdem der erste Durst gestillt war, hob er wieder den Blick zu der Albin empor, die ihn neugierig musterte. Seine Wangen begannen zu brennen und er richtete den Blick zu Boden.
„Mein Name ist Neira", stellte die Albin sich vor, „Wie heißt du?"
„Thorasal", sprach er zu Erde, die Stimme unangenehm zittrig.
„Bist du alleine?", fragte sie weiter.
Er sah wieder zu ihr, er konnte einfach nicht anders. Ihre Schönheit zog seinen Blick an wie Flammen eine Motte.
Langsam nickte Thorasal. Ein trauriges Lächeln umspielte die zarten Züge Neiras. „Ich auch", erwiderte sie.
Schweigen legte sich über sie, während nun Thorasal seinerseits die Albin neugierig musterte, was sie mit einem erheiterten Lächeln quittierte.
Zum ersten Mal, seit sein Vater vor fünf Jahren gestorben war, spürte Thorasal keine Trauer, keinen Hass, kein Gefühl der Einsamkeit mehr. Wärme breitete sich bei Neiras Anblick in ihm aus. Und er spürte den Wunsch, sich nie wieder von dem Bach zu entfernen, wo diese junge Albin saß.
Einige Zeit verstrich, in der keiner von ihnen sprach. Neugierige Blicke flogen hin und her, mal von einem scheuen Lächeln oder kleinen Lachen begleitet.
Schließlich fiel Thorasal sein Gepäck ein und er öffnete seine Tasche.
„Hast du Hunger?", fragte er mit noch immer etwas belegter Stimme.
Er holte ein paar getrocknete Winterpilze hervor, zusammen mit ein paar Streifen geräucherten Kaninchenfleischs.
Neiras Augen wurden größer, als sie das Essen in seinen Händen sah und er vermutete, dass Hunger ihr genauso bekannt war wie ihm. Er erhob sich, suchte eine seichte Stelle des Baches und watete durch das knietiefe Wasser. Auf ihrer Seite angekommen, näherte er sich langsam Neira, die ihn unsicher musterte.
Thorasal streckte ihr das Essen entgegen und mit rascher Bewegung griff die Albin danach. Hungrig fiel sie über das Fleisch her.
„Langsam", sagte Thorasal und ließ sich neben ihr nieder, „Sonst wird dir schlecht."
Neira kaute hektisch, schluckte dann und atmete tief durch. Sie fuhr sich durchs Haar und biss dann etwas langsamer das nächste Stück ab.
Schweigend blieb Thorasal neben ihr sitzen, während sie weiter aß. Die letzten Stücke Fleisch und Pilz verstaute sie in einer Falte ihres Kleides.
„Danke", murmelte Neira und suchte seinen Blick.
„Bitte", erwiderte Thorasal. Seine Haut prickelte in ihrer Nähe. Plötzlich voller Unbehagen rückte er ein kleines Stück wieder von ihr weg. Noch nie hatte er sich so unbeholfen, aufgeregt und wunderbar zugleich gefühlt.
„Wohin bist du unterwegs?", fragte Neira nach einer Weile.
Thorasal zuckte mit den Schultern. „Hierhin... Dorthin...", erwiderte er, „Ich habe kein festes Ziel."
Er drehte den Kopf der hübschen Albin zu. „Du?", stellte er die Gegenfrage.
„Ich will zu den Zwergen in den roten Bergen", antwortete Neira.
Erstaunt sah Thorasal sie an. „Aber das ist eine Reise von vielen Monaten!", rief er aus, „Warum willst du unbedingt dorthin?"
„Es heißt, die Zwerge hätten einigen unseres Volkes Zuflucht gewährt", sagte Neira, „Es wäre schön, dort eine Heimat zu finden."
Thorasal runzelte die Stirn. Auch er hatte davon gehört, dass versteckt bei den Zwergen einige Alben lebten.
„Aber das sind Sidari, die die Zwerge bei sich aufgenommen haben.", merkte er an, „Denen ist nicht zu trauen. Sie haben Krieg gegen uns Fomori geführt."
„Ein Krieg, der sie genauso zerstörte wie uns.", hielt Neira sanft dagegen, „Ich glaube nicht, dass wir uns die alten Feindschaften noch leisten können."
Wieder kehrte Schweigen ein, während Thorasal über das nachgrübelte, was Neira gesagt hatte.
Die Albin dagegen musterte ihn nachdenklich. Sie biss sich auf die Unterlippe, als wäre sie kurz davor etwas zu sagen.
Schließlich atmete sie tief durch und fragte: „Kommst du mit mir?"
Verwundert sah Thorasal wieder zu ihr. Ein entschuldigendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie schlug die Augen zu Boden und wirkte mit einem Mal beschämt.
„Es... es wäre schön, nicht allein unterwegs zu sein", begann sie leise, „wir könnten einander helfen."
Zu seinem Erstaunen musste Thorasal darüber gar nicht lange nachdenken.
Bei dem Gedanken, mit Neira zusammen unterwegs zu sein, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
„Gerne", erwiderte er. Neira hob überrascht den Blick und lächelte erfreut.
Voller Tatendrang erhob Thorasal sich und reichte der Albin die Hand. „Wollen wir los?", fragte er.
Neira ergriff die dargebotene Hand. Ihre Berührung fuhr wie ein Blitz durch Thorasal, der schluckte und für einen Moment nicht ganz wusste, was er eigentlich vorgehabt hatte.
„Willst du nicht noch deine Trinkschläuche fertig auffüllen?", fragte die Albin vorsichtig.
Es dauerte einen Moment, bis Thorasal begriff, wovon sie sprach.
„Ach so, ja!", rief er mit einem verlegenen Lachen aus und watete durch den Bach zurück zu seinem Gepäck.
Rasch waren die Schläuche aufgefüllt und Thorasal schwang sich seine Taschen auf den Rücken. Prickelnde Energie erfüllte ihn, als er sich zu Neira umdrehte.
„Also, in welche Richtung gehen wir?", fragte er. Neira wies nach Osten und gemeinsam machten sie sich auf den Weiterweg.

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt