Thorasal

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Wenn es noch eine Sache gab, die ihn auf den Beinen hielt, dann war es sein Hass.
Mit stumpfem Blick schleppte Thorasal sich immer weiter, vollkommen erschöpft, das Herz zerrissen vor Trauer und Zorn.
Warum mussten sie alle sterben?
Warum war er noch am Leben?
Ganz allein war er nun. Allein in einer Welt, die ihn und seinesgleichen hasste.
Lieber wäre es ihm gewesen, wenn auch sein Leben ein Ende gefunden hätte.
Am Rande seiner Kräfte taumelte der junge Alb weiter, seit Tagen hatte er nichts zu Essen gefunden. Zum Jagen war er mittlerweile zu schwach.
Bilder der Vergangenheit zogen an seinem Geist vorbei.
Die Gesichter seiner Eltern blickten lächelnd auf ihn hinab, die Züge gezeichnet von Armut und Hunger. Seine Geschwister, die sich dicht aneinander kuschelten, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen, wie sie den Geschichten seines Vaters lauschten. Gerne hatte er von den großen Tagen ihres Volkes erzählt, als die Alben noch mächtig und gefürchtet waren. Doch diese Zeit war lange vorbei.
Das Gesicht des Mädchens, das er liebte, schob sich in Thorasals Erinnerung. Lachend an einem hellen Frühlingstag, strahlend schön, erhabener als die Sonne selbst in ihrer Anmut. Lange schien dieser wunderbare Moment her zu sein, als würde er einem anderen Leben angehören.
Thorasals Herz verkrampfte sich vor Schmerz und unbewusst hob er eine Hand an die Brust, krallte seine Finger in den Stoff seines abgewetzten Mantels. Zittrig holte er Luft. Sie war fort. Nie wieder würde er in diese wunderschönen Augen sehen. Für immer hatten sie sich geschlossen,
erst vor wenigen Wochen hatte er Neira zur Ruhe gebettet. So wenig Zeit war seit dem vergangen und trotzdem war sie ihm schon so unglaublich fern, wie ein wunderschöner Traum, aus dem man voller Qual erwachte.
Einen schönen Ort hatte er für sie gefunden. Zwischen den Wurzeln eines Baumes, der seine goldgefärbten Blätter über die Quelle eines Baches gebeugt hatte, hatte er die Liebe seines Lebens beerdigt. Sie hätte diesen Tag geliebt. Glitzernd hatte sich die Herbstsonne im gurgelnden Wasser gespiegelt, leicht hatte eine Brise die Blätter des großen Baumes bewegt, während sich ein wolkenloser Himmel über Thorasal gespannt hatte. Nun schützte der Baum das Grab Neiras.
Doch Thorasal hatte nichts von dieser Schönheit gesehen. Und konnte sie auch seit dem nicht mehr erkennen.
Erfüllt von Trauer und wachsendem Hass auf diejenigen, die ihn und seinesgleichen immer als Aussätzige behandelten, war er dem Flusslauf des kleinen Baches gefolgt. Stumme Tränen rannen ihm auch nun wieder über das Gesicht, während er stumpfsinnig weiter stolperte.
Kalt war es in den letzten Tagen seiner Wanderung geworden. Erste Schneeflocken trieben an Thorasal vorbei, der Winter war nun auch in den Niederungen angekommen.
Ein erster dünner Eisfilm bildete sich an den Ufern des Flusses, dessen Verlauf Thorasal folgte, dankbar, dass er ihm eine Richtung vorgab. Kalt und hart war der Boden, über den er lief, auf dem nun feine Eiskristalle zum Liegen kamen. Das hohe Ufergras, durch das er sich in den letzten Wochen einen Weg gebahnt hatte, war nun einer braunen, eintönigen Ebene gewichen, über die kalte Winterwinde pfiffen.
Nahe des jungen Mannes erhob sich eben flügelschlagend ein Reiher aus dem Wasser des Flusses, einen zappelnden Fisch in seinem Schnabel. Einen kurzen Moment sah Thorasal dem beeindruckenden Vogel nach, der fast an seine eigene Größe heranreichte.
Eine kalte Windböe blies ihm entgegen und zitternd schlang Thorasal die Arme um sich. Kälte und Hunger ließen ihn schwanken.
Da erspähte er vor sich tatsächlich die Rauchfeuer von Kaminen. Etwas voraus lag ein Elfendorf am Ufer des Flusses, der nun sein einziger Begleiter war.
Der Rauchgeruch ihrer Feuer trug bis zu ihm und beinahe meinte er, den Geruch von geräuchertem Fleisch wahrzunehmen. Sein Magen röhrte vor Hunger.
Zornig verengte Thorasal die Augen zu Schlitzen. Wie oft hatte er vor einer solchen Siedlung gestanden, hungrig und erschöpft, in dem Wissen, dass er dort niemals willkommen war!
Für die Elfen war sein Volk der Stoff aus dem ihre Gruselgeschichten und Märchen gemacht waren. Aussätzige, die sie verjagten wie Ungeziefer, wenn sie die Alben nicht mehr als einfache Arbeitskräfte duldeten.
Er könnte sich an den Rand des Dorfes schleichen und versuchen, etwas Nahrung zu stehlen. Doch warum?
Welchen Grund hatte er eigentlich noch, weiterzuleben?
Sie waren tot.
Er war alleine.
Hatte es je einen Sinn in seinem Leben gegeben? Neira hatte ihm kurzzeitig das Gefühl gegeben, dass es einen Grund gab, zu existieren. Doch nun...
Die Kälte des Winters durchdrang ihn, wie er so da stand und auf das Elfendorf hinab sah. Jedes Gefühl von Hunger, Trauer oder Zorn war verschwunden. Er fühlte sich bereits, als wäre er tot.
Jeglichen Lebenswillen aufgebend, setzte er sich an Ort und Stelle und schloss die Augen, den Kopf zu Boden senkend. Seine Finger wurden taub, genauso wie seine Füße. Schnee wirbelte um ihn her, während sich das Gefühl der Taubheit über seine Arme und Beine ausbreitete.
Still blieb Thorasal sitzen, in dem Wissen, dass er bald bei Neira sein würde. Zum ersten Mal seit Wochen erfüllte ihn wieder ein klein wenig Glück und Wärme. Die Kälte des Winters nahm er nicht mehr wahr, auch wenn sein Gesicht mittlerweile blau und eiskalt war.
Bald wäre es vorbei...

Er hörte die Schritte des alten Mannes nicht, als dieser sich ihm näherte.
„Was machst du denn hier, Junge?", drang eine raue Stimme wie durch einen Nebel an seine Ohren, „Du wirst noch erfrieren!"
Jemand packte ihn an den Armen.
„Du bist ja schon ganz kalt! Komm mit!"
Thorasal öffnete mühevoll die Augen und drehte sehr langsam den Kopf. Es kostete unglaublich viel Kraft und plötzlich begann er am ganzen Leib zu schlottern.
Verschwommen sah er die Umrisse eines kahlköpfigen Mannes, der voller Sorge auf ihn hinabsah.
„Komm, steh auf!"
Er konnte sich nicht bewegen, er fühlte seine Beine nicht mehr. Und er wollte nicht... Er wollte hierbleiben.
Doch der alte Mann packte ihn erneut und zog ihn unter Ächzen in die Höhe, aber Thorasals Beine knickten unkontrolliert unter ihm weg.
Thorasal öffnete den Mund, um zu protestieren, doch außer einem undeutlichen Lallen brachte er nichts mehr heraus.
„Du holst dir den Tod, wenn du hier bleibst.", hörte er den Mann sagen, „Dann trag ich dich halt."
Er legte Thorasals Arm um seine Schulter, packte ihn an der Hüfte und schleifte ihn mit sich, fort vom Fluss.
Lass mich hier, wollte Thorasal sagen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr.
Mühsam versuchte er, seine Beine wieder unter Kontrolle zu bringen, doch die Erschöpfung war zu groß.
Schwarz wurde es um ihn, als Ohnmacht ihn einholte.


Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt