Die Wurzeln des Volkes - 1

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„Novizen!"
Die vertraute Stimme Meister Tarbeks schallte am frühen Abend durch den Schlafsaal. Von draußen fielen die letzten hell goldenen Sonnenstrahlen in den Raum, das Licht eines endenden Spätsommertages.
Blinzelnd öffnete Sirion die Augen und schirmte sie mit der Hand vor der unangenehmen Helligkeit ab. Tarbek hatte sie selbst für seine Verhältnisse früh geweckt.
„Packt eure Sachen und folgte mir!", befahl der Meister und verließ den Raum schon wieder, eine Gruppe verwirrter Novizen hinterlassend.
Warum sollten sie ihre Sachen packen? Gemurmelte Fragen mischten sich unter lautes Gähnen.
Da er wusste, dass Meister Tarbek ungern wartete, schälte Sirion sich aus seiner Hängematte und angelte nach seinen Stiefeln. Während er kurz seinen Zopf richtete, fing er Alvads Blick auf, der genauso verwirrt wirkte wie er.
„Was sollen wir denn mitnehmen?", hörte er die Novizin Ylva in den Raum hinein fragen.
Ein wenig ratlos öffnete Sirion seine Kleiderkiste und begann, darin herum zu stöbern.
„Wir sollten nicht trödeln, packt einfach irgendwas ein", schaltete sich Torren ein und so zog Sirion wahllos Kleidung hervor und warf sie am Boden auf einen Haufen. Als er am Boden der Kiste bei seinen Wintersachen angekommen war, hielt er kurz inne. Es wurde bald Herbst und die Nächte könnten recht schnell kühl werden. Kurzentschlossen holte er auch Handschuhe, Schal und Mütze hervor.
Doch dann stand er plötzlich vor dem nächsten Problem. Wo sollte er die Sachen verstauen? Er hatte keinen Beutel, keine Tasche, die er zum Transport nutzen konnte.
Fragende Blicke wurden getauscht, während die Novizen zunehmend nervös wurden. Was sollten sie tun?
„Was machen wir damit?", fragte Alvia halblaut vor sich hin grübelnd.
Es war Nymo, der den rettenden Einfall hatte. „Hängematten!", rief er und begann sofort, seine Matte von der Wand zu nehmen.
Erleichtert folgten die anderen seinem Beispiel und wenig später hatten sie alle ihre Kleidung in den Matten eingerollt und diese verschnürt über die Schulter geworfen.
Ohne weitere Worte zu wechseln, eilten sie aus dem Schlafsaal und die Treppen hinab zum Vorplatz, wo Tarbek bereits wartete. Kurz huschte der Blick des Elfen über die versammelten Novizen, dann wandte er sich ab und lief im gewohnten Dauertrab zu den Treppen hin.
Wie jeden Abend führte er sie in flottem Tempo die Haupttreppen des Baumes hinab zu dem Arviaheiligtum, wo sie im letzten Winter in feierlicher Zeremonie als Novizen aufgenommen worden waren.
Hier begann der Stamm sich bereits in erste Wurzeln zu verzweigen, näher war Sirion dem Waldboden noch nie gekommen.
Normalerweise waren sie hier am Heiligtum immer umgekehrt. Doch heute führte Tarbek sie weiter, fort von der Plattform mit der großen Statue, eine weitere Treppe hinab, hinein in das Viertel der Kaste Synnvea.
Hier dominierten die hohen Brettwurzeln des Baumes bald die Szenerie. Als weit verzweigtes Netz hoch aufragender Mauern erstreckten sie sich über den Boden, das Viertel in verschiedene Bereiche unterteilend. Fasziniert ließ Sirion den Blick über die Wurzeln schweifen. Schmalen Nestern ähnlich waren die Häuser der Kaste an die steil abfallenden Wurzelseiten geklebt. Die Felder der Pilzzüchter, die hier lebten, waren gut zu erkennen.
Nachdem die Treppe, der sie folgten, erst mit kleinen Tunneln einige der Wurzeln durchschnitt, bog sie nun weg vom Stamm und folgte dem Rand einer Wurzel auf einen Platz zu, wo sich schon einige Elfen versammelt hatten, die den Kriegern neugierig entgegen blickten.
„In einer Reihe aufstellen!", rief Tarbek, als sie den Platz erreichten und mit präziser Routine ordnete sich die Zweierreihe in einer langen Linie auf dem Platz an. Hoch aufgerichtet, die Augen auf den Meister geheftet, standen die Novizen da und warteten ab.
Untereinander tuschelnd näherten sich die Elfen der Kaste Synnvea den Novizen.Sirion registrierte, dass vor allem junge Elfen seines Alters ihnen gegenüber standen. In Gruppen musterten sie die Neuankömmlinge, sich leise untereinander austauschend.
„Novizen,", setzte Tarbek an, „als Krieger müsst ihr in der Lage sein, euren Fledermäusen kletternd in die Höhen des Baumes zu folgen. In unserem ganzen Volk gibt es keine besseren Kletterer als die Elfen der Kaste Synnvea, die ihr gesamtes Leben an den Wurzeln unseres Baumes verbringen. Die nächsten Wochen wird jeder von euch Gast einer Familie dieser Kaste sein. Sie werden euch das Klettern lehren, wie sie es ihren eigenen Kindern beibringen. Und ihr werdet euren Familien jede Hilfe und Unterstützung in ihrem Alltag sein, die ihr bringen könnt. Verhaltet euch ehrenhaft!"
Mit einer Verbeugung in Richtung der Synnveaelfen wandte sich Tarbek ab und lief davon, die Novizen allein lassend.
Fragend tauschten Sirion und die anderen Blicke, dann sahen sie zu den Elfen vor sich. Tatsächlich standen ihnen in erster Linie andere Jugendliche gegenüber. In schlichte Braun- und Beigetöne waren sie gekleidet, den Wurzeln ähnlich, an denen sie lebten. Auch sie wirkten ein wenig verunsichert und musterten die Krieger vor sich.
Eben als Sirion sich schon überlegte, ob einer von ihnen das Wort ergreifen sollte, trat einer der Synnveaelfen vor und ging auf Nymo zu, der ihm am nächsten war. Nach und nach folgten andere seinem Beispiel, gingen auf den erstbesten Novizen zu und sprachen ihn an.
Auch Sirion näherte sich ein junger Elf, ein bisschen kleiner als Sirion war er, wie sich herausstellte, als er vor ihn trat. Langes dunkelblondes Haar hing ihm über die Schultern und seine Haut war von mühseliger Arbeit gegerbt und nicht ganz so bleich wie die des Kriegernovizen.
„Hallo", begann er ein wenig angespannt, „mein Name ist Adano."
Sirion neigte den Kopf zur Begrüßung. „Sirion heiße ich", erwiderte er und ein Moment verlegenes Schweigen trat ein.
Adano trat von einem Fuß auf den anderen.
„Nun, dann... Kommst du mit mir nach Hause", meinte er dann, drehte sich um und winkte Sirion, ihm zu folgen. Dieser warf einen kurzen Blick über die Schulter, wo Alvia bereits einem anderen jungen Mann folgte, während Alvad noch in ein Gespräch vertieft war.
Rasch ruckte Sirion sein Bündel zurecht und schloss zu Adano auf. Der junge Mann führte ihn fort von dem Platz, zurück zu den Treppen, die die Novizen herab gekommen waren und wieder ein Stück die Wurzel hinauf. Noch bevor sie den Stamm wieder erreichten, bog Adano auf eine Hängebrücke ab, welcher zu der benachbarten Wurzel führte. Diese überwanden sie mit einer in das Holz gearbeiteten Treppe und betraten die nächste Brücke.
Nach drei weiteren Brücken hatten sie sich noch etwas mehr vom Baumstamm entfernt. Sie überschritten eine weitere Wurzel und wandte der Weg sich komplett vom Baum ab. Aus der Treppe wurde ein enger Pfad, der in das Holz eingegraben worden war. Sie verließen den Kamm der Wurzel und liefen nun im oberen Bereich der Wurzelflanke.
Adano lief flotten Schrittes voran, während Sirion sich etwas unwohl dicht an die Wurzel drückte. Der Weg war sehr schmal, keine zwei Elfen würden hier aneinander vorbei passen. Teils hatte man die Passage in die Wurzel hinein gegraben und Sirion musste sich hin und wieder ducken, um seinen Kopf nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. Er spähte nach unten, der Waldboden war ihm so viel näher hier. Erste Pflanzen, Büsche und Sträucher ragten bereits bis auf seine Höhe hinauf.
Wie lange sie so dem Weg folgten, wusste er nicht. Doch plötzlich erklang vor ihnen die Stimme eines Mädchens. „Mutter, Vater, Adano ist zurück!"
Sirion hob den Kopf und sah an Adano vorbei nach vorne, wo er ein schmales, langgestrecktes Haus erkannte, welches sich an die Wurzel schmiegte. Sie waren am Ziel.
Auf der engen, in den Abgrund hinein ragenden Terrasse des Hauses stand eine junge Elfe, deutlich kleiner als Sirion und Adano und winkte ihnen aufgeregt entgegen. Hinter ihr öffnete sich die Haustür und zwei erwachsene Elfen traten nach draußen, ohne Zweifel die Eltern Adanos.
Neugierig auf die Familie, bei der er nun einige Zeit leben würde, folgte Sirion Adano. Der Weg, auf dem sie gingen, wurde vor dem Haus nur um einen Hauch breiter und mündete dann direkt in die Terrasse.
„Adano!", rief das kleine Mädchen begeistert und stürzte mit wehendem blonden Haaren auf ihren großen Bruder zu, der sie mit einem lauten Lachen in die Höhe hob. „Ich hab dich vermisst!", kam es von der Kleinen und sie vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge.
Adano schmunzelte, „Solange war ich doch gar nicht weg, Arula."
Ein wenig befremdet beobachtete Sirion die beiden. Die kindliche Begeisterung eines jüngeren Geschwisterchens war ihm fremd und er fühlte sich mit einem Mal etwas unbeholfen bei dem Gedanken, ein kleines Kind in den nächsten Wochen um sich herum zu haben.
„Sei mir gegrüßt", erklang da die tiefe Stimme von Adanos Vater und Sirion wandte sich dem Elfen zu, der das gleiche lange Blondhaar seiner beiden Kinder hatte und ihn prüfend von Kopf bis Fuß musterte.
Hektisch verneigte er sich, von Anfang an wollte er einen guten Eindruck hinterlassen.
„Mein Name ist Sirion", stellte er sich vor, „Ich bin euch zu Dank verpflichtet, dass ihr mich aufnehmt."
Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht des Elfen. „Nun, unsere Kinder kennst du bereits, ich bin Synnvor und dies ist meine Frau Diara." Er legte eine Hand auf die Schulter der zierlichen braunhaarigen Elfe an seiner Seite.
„Gehen wir rein?", fragte Adano seine Eltern und lief, ohne eine Antwort abzuwarten, mit Arula auf dem Arm ins Haus.
Sirion wollte ihm folgen, doch Diara trat ihm mit ernstem Blick in den Weg.
„Sei gegrüßt in unserem Haus, an den Wurzeln des Baumes, der uns nährt. Unter dem wachsamen Auge Synnveas leben wir und ihrem Schutz sei auch du, unser Gast, empfohlen.", sagte sie mit feierlicher Stimme und er ahnte, dass es sich dabei um rituelle Grußworte ihrer Kaste handelte.
Demütig neigte er den Kopf und mit einem Lächeln trat die Elfe beiseite, um ihn in ihr Haus eintreten zu lassen.

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt