Eine alte Fehde - 2

11 2 1
                                    

Wie lange Sirion so da lag und sich mühte, das Geschehene zu verarbeiten, wusste er nicht. Vor Erschöpfung zitterte er am ganzen Leib und noch immer rang er um Atem. Doch was ihn viel mehr in Mitleidenschaft zog war das Wissen, dass Eynar ihn hatte ermorden wollen.
Es gab keinen Zweifel, der Elf hatte die Kante, an der Sirion sich hatte festhalten wollen, manipuliert.
Von den anderen Novizen, die um ihn herum auf der Terrasse zu Füßen der Arviastatue wieder zu Atem kamen, nahm er kaum etwas wahr. Zu sehr beschäftigten ihn seine rasenden Gedanken.
„Gut gemacht, Novizen", erklang plötzlich von schräg hinter ihm eine wohlbekannte Stimme.
Langsam stemmte Sirion sich auf die Ellenbogen hoch und drehte sich herum. Dort stand Meister Tarbek, die Hände auf dem Rücken verschränkt und ein für ihn sehr seltenes anerkennendes Lächeln auf dem sonst so ernsten Gesicht.
Der Meister ließ den Blick über die versammelten Jugendlichen schweifen.
„Für den Rest der Nacht habt ihr frei. Geht euch ausruhen", sagte er und wandte sich dann zum Gehen.
Erleichtert stieß Sirion den Atem aus, dann sah er zu den Zwillingen, die ihn mit vor Entsetzen noch immer weißen Gesichtern anstarrten.
Schweigend rappelten sie sich hoch, während ihre Kameraden sich bereits zur Treppe aufmachten. Auch die anderen waren verhältnismäßig still, kaum einer hatte den Atem für lange Gespräche.
„Geht es dir gut?", flüsterte Alvad und Sirion nickte.
Sein Blick ging zu den anderen Novizen und dann zu Eynar. Kalter Hass schlang sich in seiner Magengrube zusammen. Der Rothaarige sah kurz zu ihm hinüber, doch seine Miene blieb vollkommen ausdruckslos.
Sirion war sich sicher, dass dies eben die Rache für Eynars Blamage beim Fest der Sommersonnenwende gewesen war. Nie hatte der Elf Sirions Schuld beweisen können, doch verdächtigt hatte er ihn immer.
Zornig ballte Sirion die Fäuste, so fest, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft in die Handinnenflächen bohrten.
„Es war Eynar...", murmelte Sirion seinen Freunden zu.
„Was?", brach es aus Alvia heraus.
Sirion nickte grimmig. „Er hat die Kante manipuliert, irgendetwas hat er gemacht, ich habe es gesehen", erwiderte er und Alvad neben ihm knurrte wütend.
„Wenn ich den aufgeblasenen Mistkerl mal alleine in die Finger bekomme!", fauchte er, „Wir müssen etwas sagen!"
Alvia lachte trocken auf.
„Was denn? Oh Meister Tarbek, Eynar wollte Sirion umbringen. Sie haben es nicht gesehen, aber wir schwören, er hat etwas gemacht, auch wenn wir nicht genau wissen was..."
Alvad öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
„Ja, aber irgendwas müssen wir doch machen!", hielt er dagegen.
„Und das werden wir auch", stimmte Sirion ihm zu, finster Eynar nachschauend, der mit den anderen schon zum Haus der Novizen hoch ging.
„Sirion, du solltest aufpassen, nicht, dass du noch Schwierigkeiten bekommst", hakte Alvia vorsichtig ein, „Du bist schon von Meisterin Gylledhs Unterricht ausgeschlossen, hast du vergessen? Und im Winter ist unsere erste Prüfung!"
„Was schert mich das?", fauchte Sirion sie an, „Eynar hat versucht mich zu töten! Soll ich das auf mir sitzen lassen?"
„Schrei doch nicht so!", warf Alvad ein und sah sich besorgt um.
Alvia zog die Augenbrauen in die Höhe und musterte Sirion etwas unterkühlt.
„Ich will dich nur davon abhalten, deine Ausbildung weg zu werfen wegen einer kleinlichen Rivalität", erwiderte sie.
„Einen Mordversuch würde ich nicht kleinliche Rivalität nennen", zischte Sirion kalt, wandte sich auf dem Absatz um und stürmte wutentbrannt davon.

Ziellos irrte Sirion durch Iridias Kriegerviertel.
Er war nicht zum Haus der Novizen zurückgekehrt. Ihm war weder danach zu Mute, mit den anderen den gelungenen Aufstieg zu feiern, noch Eynars arrogantes Gesicht zu sehen oder gar mit den Zwillingen zu reden.
Die Tatsache ignorierend, dass er noch immer verschwitzt war und langsam hungrig wurde, stapfte er Treppen hinauf und hinunter, querte Plätze und folgte schmalen Astpfaden zwischen den Häusern hindurch.
Allein zu sein tat gut und ganz langsam beruhigten sich seine aufgewühlten Gedanken. Für einen Moment hielt er an einem kleinen Arviaschrein und entzündete ein Stäbchen aus duftendem Holz. Sein Blick glitt hoch zu den Monden, ein kurzes Dankgebet für ihren Schutz sprechend. Mühsam hielt er sich davon ab, für einen Sturz oder einen Unfall Eynars zu beten.
Dann ging er weiter und ohne es zu merken, führten seine Füße ihn in bekannte Gegenden des Viertels, sodass er, als er den Blick hob, sich seinem Elternhaus gegenüber sah. Er lächelte und mit einem Mal wünschte er sich die Geborgenheit seiner Familie zurück. Also ging er kurzentschlossen auf das Haus zu und klopfte energisch an.
Die Tür öffnete sich und mit einem Ausdruck überraschter Freude sah ihm seine Mutter entgegen.
„Sirion!", rief Jissa lachend aus.
Ohne auf eine Antwort von ihm zu warten, fiel sie ihm um die Hals und zog ihn ungestüm an sich. Dann rief sie lauthals ins Haus hinein: „Nocor! Unser Sohn ist zuhause!"
Eilige Schritte waren von drinnen zu hören und da erschien auch schon Sirions Vater im Türrahmen. Kaum, dass seine Mutter ihn losgelassen hatte, wurde er auch schon von seinem Vater umarmt.
Grinsend folgte Sirion den beiden nach drinnen, wo ihm Nocor erstmal sein Gepäck abnahm. „Wo bist denn du gewesen?", fragte Jissa derweil und unterzog ihn einer gründlichen Musterung von Kopf bis Fuß. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, so schmutzig und verschwitzt, wie er noch immer war.
„Ich war am Abend noch bei der Kaste Synnvea", erwiderte Sirion und seine Eltern nickten verstehend.
„Du wirst dich sicher frisch machen wollen", sagte Nocor, „Du bleibst doch zum Essen, oder?"
Wenig später hatte Sirion sich gewaschen und die verschwitzte Kleidung ersetzt. Überrascht stellte er fest, dass die Kleider, die ihm noch vor einem Jahr gepasst hatten, mittlerweile unangenehm an Armen und Oberkörper spannten. Die Ausbildung veränderte ihn spürbar.
Er saß am Tisch mit seinen Eltern, vor sich ein Teller mit gebratenem Rehfleisch und geschmorten Pilzen. Mit dem Geruch des Essens in der Nase, welcher ihn so sehr an seine Kindheit erinnerte, stellte sich endlich ein Gefühl von Ruhe und Behaglichkeit ein.
Dankbar dafür, einfach hier zu sein, nahm er das Besteck zur Hand und begann zu essen. Jissa und Nocor versorgten ihn derweil mit Neuigkeiten aus der Nachbarschaft. Auch befragten sie ihn zu seiner Ausbildung, doch er antwortete nur knapp. So richtig gesprächig fühlte er sich nicht.
Zu erschöpft war er. Zu aufgewühlt von den Geschehnissen des Tages.
„Du bist still heute...", sagte Jissa dann plötzlich leise, „Ist alles okay, Sirion?"
Er wich ihrem deutlich zu wissenden Blick aus und nickte abwesend. Plötzlich wünschte er sich, doch nicht hierher gekommen zu sein. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihm. Der Wunsch, sich den Eltern anzuvertrauen, und der Stolz, nicht wie ein Kind zu den Erwachsenen zu rennen, rangen um die Oberhand.
„Sirion?", hakte Nocor sanft nach.
Er hatte sämtlichen Appetit verloren und legte die Gabel beiseite. Unsicher, was er tun oder sagen sollte, starrte er auf die Tischplatte vor sich.
„Kennt ihr... kennt ihr Eynar?", fragte er dann schließlich beinahe flüsternd.
Vorsichtig hob er den Blick, um überrascht festzustellen, dass seine Eltern einen langen Blick tauschten. Einen Moment sagte keiner etwas, dann erwiderte Nocor: „Eynar, der Sohn Narens?"
Sirion nickte.
Jissa und Nocor sahen sich erneut an. Sie wirkten beunruhigt.
„Was ist mit Eynar?", fragte Jissa dann, ihre Stimme etwas angespannter als sonst.
„Er hasst mich...", erwiderte Sirion leise, „Seit dem ersten Tag. Ich weiß nicht, warum!"
Jissa fuhr sich mit einem Seufzen über die Stirn und ein seltsamer Verdacht keimte in Sirion.
„Ihr wisst etwas", sagte er, es war eine Feststellung.
Nocor erhob sich und ging ein paar Schritte im Raum hin und her. „Ich hatte gehofft, Naren hat mittlerweile mit der Vergangenheit zumindest etwas Frieden geschlossen. Aber so wie es scheint, hat er seinen Sohn angestachelt."
„Wovon sprecht ihr?", hakte Sirion nach, zunehmend verwirrt.
Sein Vater drehte sich ihm zu und sagte: „Naren ist mein Vetter. Wir waren früher unzertrennlich."
„Eynar ist mit uns verwandt", echote Sirion langsam und seine Eltern nickten ernst.
„Naren hatte noch einen älteren Bruder, der ebenfalls den Namen Eynar trug", fuhr seine Mutter leise fort, „Ich war Eynar versprochen, seit ich ein junges Mädchen war. Doch eines Tages lernte ich deinen Vater kennen..."
Sie hob den Blick und sah zu Nocor auf. Langsam ahnte Sirion, was passiert sein könnte.
„Du hast Narens Bruder, Eynar, abgewiesen", sagte er.
Jissa nickte. „Es war ein großer Skandal", erzählte sie, „Es gab Streit zwischen den Familien, beide Seiten sahen sich einem Verlust der Ehre gegenüber, als ich Eynar abwies und den Bund mit deinem Vater schloss, im Geheimen."
Fassungslos lauschte Sirion seiner Mutter.
„Als ich mit Charuna schwanger war, verkündete ich meine Verbindung zu Nocor und wurde von der Ausbildung zum Fledermausreiter ausgeschlossen. Eynar war voller Zorn und Hass. Ich versuchte ihn zu beruhigen, doch er wollte nicht auf mich hören. In dieser Nacht nahm er an einem Trainingsflug teil. Ich weiß nicht, was genau passierte, doch es gab einen Unfall und er stürzte in den Tod."
Stille herrschte. Man hätte ein Blatt zu Boden sinken hören können.
Und Sirion war mit einem Mal vieles klar.
„Eynar und sein Vater machen uns für den Tod seines Onkels verantwortlich?", fragte er leise und seine Eltern nickten ernst.
„Warum habt ihr mir nie etwas davon erzählt?", fuhr Sirion auf.
Jissa und Nocor tauschten einen schuldbewussten Blick. „Wir haben gehofft, dass die Vergangenheit endlich ruhen kann", erwiderte Nocor.
„Nun, das sieht Eynar nicht so", kam es trocken von Sirion, „Er hasst mich"
„Sirion", seine Mutter lehnte sich ernst vor und nahm seine Hände, „diese Ausbildung ist gefährlich. Ihr Novizen braucht einander. Lasst nicht zu, dass die Vergangenheit eurer Eltern euer Leben überschattet."

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt