„Hier werde ich euch nun allein lassen", wandte sich Tiron an die beiden jungen Novizen, die ihm bisher schweigend gefolgt waren.
Der Sturm der letzten Nacht hatte deutliche Spuren im Wald hinterlassen. Herabgefallene Äste machten das Vorwärtskommen mühselig. Doch heute wehte kaum ein Windhauch, unschuldig glitzerten die Sterne auf sie hinab.
Kaum dass der Abend angebrochen war, hatte Tiron sie geweckt und nach einem einfachen Essen hatten sie die Höhle der Einsiedler verlassen. Der Elf führte sie nun schon eine Weile durch den Wald, in Richtung der Stadt Iridia, fort von seinem versteckten Heim. Weder Sirion noch Eynar hatten auf dem Weg viele Worte gemacht. Zum einen schmerzte Sirion noch immer seine Verletzung, zum anderen versuchte er noch immer, die ungeheuerliche Geschichte Tirons zu begreifen.
Ein Teil von ihm wollte diese einfach abtun, ein Märchen, das Hirngespinst eines verrückten Elfen, der wohl an Verfolgungswahn litt. Doch so einfach war das nicht. Erbarmungslose Ehrlichkeit hatte in Tirons Worten gelegen und nun wankte das Fundament, auf dem Sirions Leben stand.
Tiron war nun stehen geblieben und musterte sie eindringlich. „Ich halte euch an euren Schwur", sagte er mit scharfer Stimme und sie nickten.
„Habt Dank", erwiderte Sirion und neigte den Kopf vor Tiron, der mit einem kurzen Nicken sich verabschiedete und dann im Schatten der Hecken verschwand.
Sirion und Eynar wechselten einen stummen Blick, dann verständigten sie sich darauf, weiter in die Richtung zu gehen, in die Tiron sie geführt hatte.
Wie lange sie so liefen, vermochte Sirion nicht zu sagen. Sein Zeitgefühl versagte. Und er war bei weitem nicht so wachsam, wie er es eigentlich hier sein sollte. Viel zu spät erst hörte er die Schritte, die sich ihnen näherten.
„Da kommt jemand!", zischte Eynar in eben diesem Moment, offenbar war auch er tief in Gedanken gewesen.
„Sirion!", erklang die Stimme einer Elfe und zu seinem Erstaunen tauchte Alvia vor ihnen aus dem Unterholz auf. Kurz flackerte ihr Blick zu Eynar hinüber, dann spurtete sie auf Sirion zu. „Dir geht es gut!", rief sie voller Erleichterung und warf ihm die Arme um den Hals, „Oh wir haben uns solche Sorgen gemacht, aber Meister Tarbek bestand darauf, zu warten, bis der Sturm sich komplett gelegt hatte. Er wollte nicht noch mehr Novizen in Gefahr bringen."
Lächelnd erwiderte Sirion die unerwartet stürmische Umarmung.
„Da seid ihr ja!", hörte er Runam sagen und hob den Kopf. Meister Tarbek und die anderen Novizen kamen da auf sie zu. Sachte löste er sich aus Alvias Griff und sah seinem Lehrer entgegen. „Geht es euch gut?", fragte der Krieger mit strengem Blick, „Seid ihr verletzt?"
„Nur eine leichte Kopfverletzung, Meister", erwiderte Sirion. Er sah zu Eynar, den eben Femkana begrüßte, scheinbar ebenso erleichtert wie Alvia. Der Rothaarige sah ein letztes Mal zu Sirion hinüber, dann jedoch legte sich wieder die kalte Maske des Abscheus über sein Gesicht und er drehte sich weg.
„Ihr habt uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt", kam es da von schräg hinter Sirion. Er drehte sich um und sah sich Alvad gegenüber, der seinem Freund mit freudigem Lächeln auf den Arm klopfte.
„Gut, da wir nun Sirion und Eynar gefunden haben, weiter nach Iridia!", rief Tarbek und rasch reihte Sirion sich bei den anderen Novizen ein.
Alvad schob sich zwischen ihn und seine Schwester. „Rück mal beiseite du Nachtplage", brummte er Alvia an, die ihm einen sauren Blick zuwarf und dann mit verschränkten Armen zu Runam, Almina und Sylire aufschloss.
„Sag mal,", murmelte Alvad halblaut, „wie geht es dir? Wo wart ihr eigentlich? Wir haben alles abgesucht... Und wie, bei der Gnade der Göttinnen, hast du es solange mit Eynar ausgehalten, ohne verrückt zu werden?"
Sirions Blick schweifte zu Eynar hinüber, doch die Tatsache, dass er ausgerechnet mit seinem verhassten Rivalen zusammen von der Gruppe getrennt worden war, war mittlerweile aus seiner Sicht komplett zweitrangig. Er kaute auf seiner Lippe herum. Tirons Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Am liebsten würde er die Geschichte von Natiras Tod vergessen oder mit in sein Grab nehmen. Doch gleichzeitig sehnte er sich danach, seinen beiden besten Freunden davon zu erzählen. Aber wollte er sie damit wirklich belasten? Wusste er doch selbst gut genug, welchen Sturm dieses Wissen in einem auslöste. In Ansätzen begann er zu ahnen, welche Sprengkraft diese Geschichte hatte, sollte sie bekannt werden.
„Sirion?", hakte Alvad nach, verwirrt ob seines langen Schweigens.
Sirion drehte sich zu ihm um. Einen Schwur hatte Tiron von ihm gefordert, doch dieser hatte nur dazu gedient, den Unterschlupf der Einsiedler zu schützen. Nie hatte er verlangt, dass Sirion oder Eynar seine Erzählung für sich behalten sollten... Wenn er es sich recht überlegte, so hatte Tiron sie doch gerade zu ermutigt, die Geschichte weiter zu erzählen.
„Nicht hier...", erwiderte er nur leise, „In der Stadt..."
Alvad runzelte fragend die Stirn, fragte aber nicht weiter nach, sondern wechselte das Thema. „Ja, in der Stadt, da sind wir vermutlich recht bald." Er lächelte verträumt, „bei Tjavis..."
Zwei weitere Nächte verstrichen, in denen Sirion den Zwillingen deutlich zu verstehen gab, dass er über seine Erlebnisse mit Eynar noch nicht reden wollte. Dieser jedoch ging Sirion geflissentlich aus dem Weg und schien erpicht, die letzte Zeit einfach zu vergessen und zu dem alten Hass zwischen ihnen zurück zu kehren. Sirion sollte es nur recht sein.
Seine Verletzung heilte gut, nun da sich Meister Tarbek seiner annahm. Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, denn Sirion lag das Erlebte nun schon so lange auf der Zunge, erreichten sie endlich Iridia.
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Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende Wald
FantasyDer junge Nachtelf Sirion wurde in die Kriegerkaste seines Volkes hinein geboren. Und so beginnt er, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist, die entbehrungsreiche Ausbildung zum Fledermausreiter. Doch in den Jahren seiner Ausbildung zum Krieger ver...