Suchend sah er sich nach Alvad um, als er einige Stunden später aus der Schmiede trat. Doch nirgendwo konnte er ihn finden. Alvia kam da auf ihn zugelaufen. „Hast du Alvad gesehen?", fragte sie ihn, doch er schüttelte den Kopf.
„Er ist etwas früher aus der Schmiede gegangen habe ich gesehen", meinte die Elfe.
„Denkst du, er sucht Tjavis?", mutmaßte Sirion.
„Das glaube ich nicht", erwiderte sie.
Einen Moment standen sie ratlos da, dann beschlossen sie, mit den anderen zurück zum Haus der Novizen zu gehen. Spätestens dort würden sie ihn wohl finden. Doch sie waren noch nicht weit gegangen, als Sirion ein Einfall kam.
„Komm mit!", sagte er und führte Alvia zu der Bank, wo er erst vor wenigen Wochen mit Alvad gesessen hatte und wo Tjavis ihm Nachrichten hinterlassen hatte. Und tatsächlich, dort sahen sie Alvad stehen. Den Kopf gesenkt, in den Händen ein zusammengeknülltes Pergament haltend. Seine Schultern bebten verdächtig.
Er hob nicht den Blick, als sie neben ihn traten. „Lasst mich allein", forderte er mit brüchiger Stimme.
„Alvad", flüsterte Alvia sanft und berührte ihn an der Schulter, „Was ist passiert, Bruder?"
Doch er schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. In seinen Augen schwammen Tränen, tiefer Schmerz verzerrte seine Züge, während seine Faust sich fest um das Pergament schloss.
„Alvad, sprich mit uns, bitte!", bohrte Alvia nach, worauf er ganz langsam den Kopf hob. Den Blick voller Trauer sah er sie beide an, dann sagte er tonlos: „Tjavis hat geschrieben..." Bebend holte er Luft und setzte wieder zum Sprechen an. „Dass wir uns nicht mehr treffen dürfen"
Er schloss die Augen und rang nach Luft, als hätte er körperliche Schmerzen. Voller Mitleid sah Sirion seinen besten Freund an. Sanft legte er eine Hand auf seinen Arm. „Oh Alvad, es tut mir so leid", sagte Alvia und zog ihren Bruder in eine sanfte Umarmung.Der Sommer schritt weiter voran und brachte unangenehm warme Nächte und noch heißere Tage.
Trotz geschlossener Fensterläden schafften die Novizen es nicht, die Hitze der Sonne aus ihrem Schlafraum zu verbannen. Und auch nachts war die Luft, zwar etwas kühler als am Tage, aber immer noch zu warm für die meisten.
Sirion war dankbar, dass er nun nicht mehr am Feuer zu schmieden hatte, sondern seine Stunden in der Kriegsschmiede nun mit dem Vorbereiten der Schablonen zubrachte. Dennoch war er dabei meist bereits schweißgebadet, denn Meister Tarbek zeigte auch bei der Sommerhitze keinerlei Gnade. Auch Meisterin Gylledh drillte sie unnachgiebig mit Grundschlägen und Formen, jede einzelne Bewegung des Schwertes sollte perfektioniert werden und ihnen in Fleisch und Blut übergehen, sodass sie in einem tatsächlichen Gefecht nicht mehr würden nachdenken müssen. Zur Frustration der Novizen fand sie bei jedem noch immer Fehler und wurde auch erklärte auch wieder und wieder, dass die Kunst des Schwertes ein Weg war, den man ein Leben lang gehen würde.
Mittlerweile waren die Jäger und Heiler, die zu der, unter unerklärbaren Umständen verstorbenen, Wildschweingruppe ausgeschickt worden waren, wieder zurück gekehrt. Keine Erklärungen brachten sie mit, nur Vermutungen und Hypothesen, eine waghalsiger als die andere. Und überall in der Stadt hörte man bald Gerüchte von einer rätselhaften Krankheit, die im Wald Tiere dahin raffte.
Die wenige Zeit, die die Novizen nicht im Training, in der Schmiede oder im Unterricht verbrachten, saßen sie zumeist in der Bibliothek. So auch heute, als sie die letzten Stunden der Nacht beisammen saßen. Das Fenster neben ihrem Tisch hatten sie weit aufgerissen, in der Hoffnung, zumindest ein wenig kühle Luft herein zu locken. Sirion hockte neben Alvad und las seine Notizen zum Herzkreislauf System der Fledermaus durch, vor sich ein aufgeschlagenes Buch mit einer detaillierten Zeichnung des Fledermausherzens.
Ihm gegenüber wiederholte Torren die Knochen und Muskeln und Almina blätterte mit richtiger Begeisterung in einem Büchlein zur Geburt und Aufzucht von Feldermauswelpen.
Möglichst unauffällig ließ Sirion seinen Blick zur Seite schweifen. Alvad stierte auf seine Notizen, doch Sirion war sich sicher, dass sein Freund mit den Gedanken ganz woanders war. Er machte sich Sorgen um ihn.
Seit Tjavis letzte Nachricht war er vollkommen in sich gekehrt und sprach kaum noch ein Wort. Im Unterricht stierte er in eine Ecke des Raumes, verweigerte oft sogar den Meistern die Antwort. Zwar begleitete er Sirion und Alvia in die Bibliothek zum Lernen, doch saß er auch dort meist nur die Zeit ab. Seinen Appetit hatte er fast vollkommen verloren, doch da er sich in das Training von Gylledh und Tarbek mit Feuereifer hinein stürzte, als würde es ihm helfen, sich vom Schmerz des Liebeskummers abzulenken, wurde er zunehmend hagerer, da er ja kaum noch etwas zu sich nahm.
Nun fing er Sirions Blick auf. Die sonst immer vor Schabernack funkelnden schwarzen Augen wirkten leer und kalt.
„Soll ich dich abfragen?", fragte Sirion vorsichtig und deutete auf Alvads Unterlagen. Doch dieser schüttelte den Kopf und begann, seine Unterlagen einzusammeln. Schließlich erhob er sich. „Wohin gehst du?", hakte Sirion nach.
„Hoch", erwiderte Alvad tonlos und verließ sie.
Fragend blickte Almina ihm hinterher. „Was hat er nur?", fragte sie, doch Sirion schüttelte nur den Kopf. Niemand außer Alvia, Charuna und ihm wusste von Alvads Liebe zu Tjavis und so sollte es auch bleiben.
In eben diesem Moment kam Alvia hinter den Regalen hervor, ein Buch unterm Arm tragend. Sie sah ihrem Bruder hinterher, der sie aber komplett ignorierte. „Hat er was gesagt?", fragte sie Sirion und die anderen, als sie zu ihnen an den Tisch kam.
„Nicht mehr als sonst auch", erwiderte Sirion und die beiden teilten einen langen, besorgten Blick.
„Er muss mal endlich mehr essen", brummte Alvia, „Wenn das so weiter geht, spreche ich mit den Meistern und unseren Eltern. Dann soll er zur Not eine Weile zuhause sein, Mutter wird ihn schon wieder päppeln."
„Ihr wisst doch bestimmt, was mit ihm los ist, oder?" Sylire beugte sich neugierig zu ihnen vor.
„Nichts, was dich anzugehen hat", schnappte Alvia gereizt und mit einem Verdrehen ihrer Augen wandte Sylire sich wieder ihren Notizen zu.
Stillschweigend kamen Sirion und Alvia überein, dass Thema fallen zu lassen, zu viele neugierige Ohren saßen um sie herum. „Was hast du da?", fragte Sirion und blickte Alvia über die Schulter.
„Kommentare zu einer Landkarte von Tarvel", erklärte die Elfe, „Vielleicht werde ich da endlich mal zum Ödland fündig."
„Bist du da etwa immer noch dran?" Verwundert sah Sirion sie an. Ihre Hartnäckigkeit erstaunte ihn da immer wieder. „Wäre es nicht interessanter, nach möglichen Erklärungen zu recherchieren, was die Wildschweine umgebracht hat?"
Alvia sah ihn mit ungeduldigem Gesichtsausdruck an. „Und welche Anhaltspunkte habe ich da? Gar keine! Da stocher ich noch mehr im Nichts."
Sie schüttelte den Kopf und beugte sich über den Wälzer.
Sirions Mundwinkel zuckten amüsiert und er wandte sich wieder seinen Unterlagen zu, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete und eine Novizin des ersten Jahres ihren Kopf herein steckte.
„Ist hier ein Sirion?", fragte sie.
Überrascht hob Sirion den Kopf, „Ja, was ist?"
Die Elfe kam an den Tisch gelaufen und sagte: „Eine Mondtochter namens Charuna ist draußen und möchte mit dir sprechen"
„Was will Charuna denn?", murmelte Sirion und erhob sich. Er war nicht erpicht darauf, mit seiner Schwester zu sprechen. Sie hatte Alvad und Tjavis auseinander gerissen. Es war ihre Schuld, dass Alvad so litt. Wie es Tjavis ging, wusste Sirion nicht, er hatte sie nicht mehr gesehen, doch vermutete er, dass es ihr ähnlich wie seinem Freund erging. Für einen Moment wollte er seiner Schwester ausrichten lassen, dass er definitiv nicht mir ihr reden wollte.
Da stand Alvia ebenfalls auf. „Ich komme mit", meinte sie und die beiden verließen die anderen.
„Ob es wohl um Alvad geht?", murmelte Alvia leise.
„Vermutlich", brummte Sirion.
Sie betraten die Vorhalle, wo sie durch das geöffnete Portal bereits Charuna sehen konnten, gekleidet in das für Mondtöchter typische silbrige Kleid.
Die Elfe drehte sich zu ihnen um, als sie nach draußen kamen. „Sirion, Alvia", grüßte sie die beiden.
„Was willst du?", fragte Sirion reichlich frostig. Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb er vor seiner Schwester stehen.
„Ich wollte wissen, wie es dir geht... wie es Alvad geht", erwiderte sie.
Sirion schnaubte. „Als ob dich das wirklich interessiert", knurrte er mit vorwurfsvollem Blick.
Die Mondtochter seufzte und schwieg einen Moment. „Ich wollte deinen Freund nicht verletzten, oder Tjavis, oder dich.", sagte sie dann, „Aber, es war das Richtige"
Darauf antwortete Sirion nichts, sondern fixierte seine Schwester weiterhin mit finsterer Miene.
„Uns ist als Mondtöchtern jede weitere Bindung außerhalb des Ordens untersagt. Liebe oder gar Ehe ist verboten, das wisst ihr. Tjavis und Alvad hatten keine Zukunft zusammen, es war von Anfang an töricht von ihnen beiden anderes zu hoffen."
„Vielleicht haben sie gar nicht auf irgendetwas gehofft!", fuhr Sirion dazwischen, „Sie lieben sich und wollten doch nur Zeit miteinander verbringen!"
„Und denkst du ernsthaft, das wäre genug gewesen, sie hätten nicht irgendwann mehr füreinander gewollt?", hielt Charuna aufgebracht dagegen. Sie hielt inne und atmete einmal tief durch. „Glaub mir, es war nichts, was ich gerne tat. Aber ich musste Tjavis beschützen."
„Vor was musstest du sie beschützen?", fragte Sirion spöttisch nach.
„Wenn ihre Beziehung zu Alvad bekannt geworden wäre, hätte man sie ehrlos aus dem Orden verstoßen. In den seltenen Fällen, in denen etwas Derartiges passiert ist, wurde die ehemalige Mondtochter dann von Verwandten aufgenommen. Tjavis jedoch hat keine Familie mehr, sie wäre eine Ausgestoßene, ohne Zuhause, schutz- und mittellos."
Schweigen kehrte darauf hin ein. Sirion blickte zu Boden, noch immer war er sauer auf Charuna, doch sah er auch ein, dass sie das getan hatte, was sie für das Beste für ihre Freundin hielt.
„Alvad ist unglücklich", kam es dann leise von Alvia, „Er zieht sich immer mehr zurück, isst kaum, trainiert dafür, als hinge sein Leben davon ab. Sein Herz ist gebrochen."
Charuna schloss gepeinigt die Augen und nickte langsam.
„Tjavis geht es ganz ähnlich", erwiderte sie, „Sie vermisst ihn."
Ratlos standen die drei beieinander. „Schöner Schlamassel", brummte Sirion und seine Schwester nickte bestätigend. „Ihr kümmert euch um Alvad?", bat sie leise und man konnte deutlich das schlechte Gewissen in ihren Augen sehen.
„Natürlich", erwiderte Alvia.
„Kannst du mir verzeihen, dass ich deinem Bruder so viel Schmerz bereitet habe, Alvia?", fragte Charuna und Alvia zuckte mit den Schultern. „So wie ich es sehe, wäre die Liebe der beiden früher oder später daran zerbrochen, dass Tjavis nunmal eine Mondtochter ist", erwiderte sie mit traurigem Blick.
Von einem der benachbarten Plätze zog der Geruch von gegrilltem Fleisch zu ihnen hinüber und Sirions Magen knurrte laut, was seiner Schwester ein kurzes Lächeln entlockte. „Habt ihr schon eurer Sonnenmahl gehabt?", fragte sie und die beiden schüttelten die Köpfe. Vermutlich sammelten sich eben jetzt die anderen Novizen zu der letzten Mahlzeit der Nacht.
„Kommt, wir holen uns etwas zu essen", beschloss Charuna und wenig später saßen die drei auf einer Bank, von der sie eine herrliche Aussicht auf den Wald in den frühen Morgenstunden hatten. Um sie her begrüßten die Vögel mit klarem Gesang den neuen Tag, als eben die letzten Fledermäuse heimkehrten, deren feine Stimmen sich mit dem kräftigen Zwitschern mischten. Eine willkommene Brise bewegte die Blätter des Baumes und sorgte für ein wenig Abkühlung, während der Himmel langsam ein helleres Blau annahm.
Eine Weile genossen sie schweigend die mit gegrilltem Hasenfleisch gefüllten Brote, die Charuna gekauft hatte, dann kam Sirion ein Gedanke.
„Charuna, hörst du im Palast der Mondmutter etwas über den seltsamen Tod dieser Wildschweine, die die Jäger gefunden haben?"
Die Mondtochter schüttelte langsam den Kopf. „Auch ich weiß kaum mehr als ihr. Keiner der Heiler, Jäger oder sonstiger Gelehrter, der sich mit dem Fall befasst hatte, konnte eine Erklärung finden. Die Mondmutter hat Dutzende mit einer Untersuchung beauftragt. Doch man kam zu keinem Ergebnis."
„Denkst du, es könnte eine Krankheit sein? Etwas anderes macht doch kaum Sinn", mutmaßte Alvia.
„Dafür wissen wir noch immer viel zu wenig", erwiderte Charuna, „Es bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als abzuwarten."
„Also können wir nichts tun", meinte Sirion, fragend sah er seine Schwester an. „Was gedenkt die Mondmutter zu tun?"
„Die Mondmutter teilt nicht alle ihre Gedanken mit mir, Sirion", kam es von Charuna, „Aber selbst wenn sie es täte, würde ich es sicher hier nicht ausplaudern."
Sie sah die beiden jüngeren Elfen an und lächelte aufmunternd, als sie den besorgten Gesichtsausdruck der beiden bemerkte.
„Es bringt uns nichts, jetzt in Panik zu verfallen. Eine Handvoll Wildschweine ist tot. Mehr ist nicht passiert. Nach allem, was wir wissen, könnte dies auch das einzige Mal gewesen sein, dass etwas Derartiges vorkommt. Und seid beruhigt, die Mondmutter nimmt den Fall sehr ernst. Sie berät sich täglich mit den Gelehrten von Ruka und lässt sich nun regelmäßig Berichte von den Jägern zukommen."
Damit mussten Sirion und Alvia sich wohl zufrieden geben. Und tatsächlich stimmte Sirion seiner Schwester zu, dass ängstliche Spekulation ihnen nun nicht weiterhelfen würde.
Eine Weile berichteten sie Charuna von ihrer Ausbildung, den Fortschritten, die sie in der Herstellung ihrer Rüstung machten, dem Unterricht in Fledermauskunde und Glaubenslehre, sowie dem harten Regiment, das Gylledh und Tarbek trotz der Sommerhitze aufrecht erhielten.
Dann fragte Alvia plötzlich: „Charuna, was weißt du über das Ödland?"
Charuna hielt in ihrer Kaubewegung inne. „Das Ödland?", fragte sie verwundert, „Warum fragst du danach?"
„Ach, seit wir in Rukaya waren, finde ich das Ödland und das, was dahinter liegen könnte, einfach faszinierend.", erwiderte sie beiläufig, „Aber ich finde dazu überhaupt keine Informationen, zumindest nicht in unserer Bibliothek. Ich habe in den letzten Monaten alles durchforstet, was auch nur entfernt damit zu tun haben könnte."
„Dann ist es vielleicht besser, wenn du das Thema einfach fallen lässt", kam es kurz angebunden von Charuna.
Ihr scharfer Tonfall ließ Alvia aufhorchen. „Warum?", fragte sie, nun erst recht neugierig.
Die Mondtochter ließ ihr Essen sinken und sah Alvia lange an. „Die Göttinnen gaben uns den Wald Tarvel zum Leben. Er ist alles, was wir brauchen. Schon vor langer Zeit bestimmte eine Mondmutter das Ödland als verbotenes Land."
„Aber warum?", hakte Alvia nach.
Charuna seufzte genervt. „Reicht es nicht, wenn ich dir sage, dass es verboten ist, sich mit diesem Thema zu befassen?", fragte sie, „Es ist außerdem nicht verwunderlich. Niemand kann dort überleben, also ist es vermutlich nur zum Schutz unseres Volkes. Befasse dich lieber mit den Themen deiner Ausbildung, Alvia, das Ödland wird dir nicht gut bekommen."
Verwirrt und ein wenig vor den Kopf gestoßen sah Alvia zu Charuna, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, erklang ein Ruf in der Nähe. „Mondtochter! Mondtochter!"
Sie drehten sich um, Charuna sprang bereits auf die Füße. Eine Elfe kam auf sie zugelaufen.
„Mondtochter!", rief sie voller Aufregung, „Mein Schwager kam eben mit einem Jagdtrupp nach Hause. Sie haben mehrere tote Tiere am Rande einer Lichtung gefunden!"
Sirion erstarrte bei diesen Worten. Noch mehr tote Tiere?
„Wie viele?", fragte Charuna sofort. Die Elfe fuhr sich aufgewühlt durchs Haar und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht! Ein Dutzend, vielleicht mehr, vielleicht auch weniger. Es ging alles so schnell! Er ist noch zuhause. Ich wollte nur schnell in die Stadt und eine Mondtochter finden. Die Mondmutter muss davon erfahren!"
Mit fahrigen Fingern griff sie nach Charunas Ärmel.
Ihre schrille Stimme lockte bereits Schaulustige an. Tuschelnd scharten die Elfen sich um die kleine Gruppe.
Sirions Magen war zu einem kalten Klumpen verschlungen. Eben noch hatte Charuna gesagt, es gäbe keinen Grund, sich zu sorgen, noch nicht zumindest. Doch nun waren wieder verendete Tiere gefunden worden. Was ging hier vor sich? Breitete sich eine Krankheit unter den Tieren des Waldes aus? Gäbe es vielleicht auch bald die ersten Todesopfer unter den Elfen?
Da spürte er eine Berührung an seiner Schulter. Seine Schwester hatte die Hand nach ihm ausgestreckt. „Schafft ihr mir die Schaulustigen vom Hals?", murmelte sie, während sich die vollkommen aufgelöste Elfe noch immer an ihrem Kleid festklammerte.
Sirion nickte und schluckte einmal, um seiner Stimme wieder her zu werden. Dann ging er auf die Gruppe zu und richtete sich zu voller Größe auf. „Hier gibt es nichts Besonderes zu sehen! Geht nach Hause!"
„Wurden wieder tote Tiere gefunden? Waren es wieder Wildschweine oder andere?"
Ein Stimmengewirr aus Fragen schlug ihm entgegen, aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Alvia ähnlich belagert wurde. Die ersten Elfen versuchten sich schon, an ihm vorbei zu drängen, um zu Charuna zu gelangen.
„Die Mondmutter wird Bericht erstattet bekommen! Behindert die Mondtochter in ihrer Arbeit nicht!", rief er mit erhobener Stimme und dies zeigte tatsächlich Wirkung, denn die Elfen wichen ein Stück zurück.
„Komm, wir gehen deinen Schwager holen und gehen dann gemeinsam zur Mondmutter", hörte er da Charuna sagen und konnte eben noch sehen, wie sie gemeinsam mit der Elfe verschwand. Einen letzten besorgte Blick warf seine Schwester ihm zu, dann war sie fort.
„Komm, wir hauen ab!", zischte Alvia und so schnell sie konnten, verschwanden sie aus dem entstandenen Gedränge.
Die Wege der Stadt meidend, wo sie jetzt noch auf andere Elfen treffen würden, gingen sie zurück zum Haus der Novizen.
„Schon wieder sind Tiere gestorben", meinte Sirion sorgenvoll und Alvia nickte stumm.
„Ich hoffe, man wird darauf bald Antworten finden", fuhr er fort, „Es macht mir zunehmend Sorgen." Nun, da er nicht mehr damit beschäftigt war, eine Gruppe neugieriger Elfen von seiner Schwester fern zu halten, kam seine eigene Angst zurück. Der entsetzte Blick der Elfe ging ihm nicht aus dem Kopf. Würde das Sterben weitergehen? Was, wenn alle Tiere des Waldes verenden würden? Sie hätten keine Tiere mehr zum Jagen und was wäre mit den Fledermäusen? Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er sich fragte, ob auch die Tiere, die ihnen heilig waren, betroffen sein könnten. Und was war mit ihnen, konnten auch Nachtelfen sich an dieser rätselhaften Krankheit anstecken?
„Hast du Charunas seltsamen Tonfall bemerkt, als ich sie nach dem Ödland fragte?", kam es da vollkommen unerwartet von Alvia.
„Bitte was?", fragte Sirion und blieb irritiert stehen.
Die Elfe wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Es ist verboten, das Ödland zu betreten oder gar darüber Nachforschungen anzustellen", wiederholte sie, „Kommt dir das nicht verdächtig vor?"
„Wieso denkst du darüber jetzt nach?", kam es verständnislos von Sirion, „Hast du nicht mitbekommen, was eben passiert ist?"
„Doch das habe ich, aber an sterbenden Tieren ändere ich im Moment nichts", erwiderte Alvia schlicht.
„Nein, weißt du, woran mich die Sache erinnert?"
Sirion schüttelte den Kopf, allmählich ging ihm Alvia mit dem Ödland auf die Nerven.
„An Natira, Tirons Schwester...", antwortete Alvia und Sirion sah sie mit geweiteten Augen an.
„Sie hat Recherchen zur Geschichte unseres Volkes angestellt, dabei stieß sie auf einen Zeitpunkt, an dem sämtliche Aufzeichungen abbrachen. Als sie dann weiter forschte, wurde ihr dies verboten." Alvias Stimme verklang und sie sah mit seltsamem Gesichtsausdruck in die Ferne.
„Alvia...", begann Sirion, den ein ganz ungutes Gefühl beschlich.
„Natira war damals sicher, dass man etwas verborgen halten wollte und deswegen die Auseinandersetzung damit verbat. Nun recherchiere ich über das Ödland und bekommen im Prinzip die selbe Antwort! Das muss doch zusammen hängen!"
Nachdenklich begann Alvia hin und her zu laufen, während Sirion sie beobachtete. Sicher war ihm die Erzählung Tirons noch gut im Gedächtnis, genauso wie die Angst, die ihn damals beschlichen hatte. Den Gedanken daran, dass die Mondmutter einst den Tod einer Elfe in Kauf genommen hatte, hatte er immer beiseite geschoben. Möglicherweise gab es ein Geheimnis, das nicht für gewöhnliche Elfen bestimmt war. Doch darüber hatte er nicht weiter nachgedacht, zu sehr hatte ihn die Ausbildung und nun auch Alvads Liebeskummer in Anspruch genommen.
Alvia blieb stehen. „Ich muss mehr über das Ödland herausfinden und über Natira. Was hat sie gewusst?"
Sirion klappte der Mund auf. „Das kannst du nicht ernst meinen!", rief er aus. Er machte einen Schritt nach vorne und packte Alvia am Arm. „Alvia, Natira hat ihr Leben verloren!", sagte er eindringlich, „Tu das nicht, ich bitte dich! Es ist zu gefährlich! Charuna hat recht, konzentrier dich auf die Ausbildung, lass dieses Thema sein!"
Doch Alvia schüttelte beharrlich den Kopf, die Augen funkelnd vor Entschlossenheit. „Ich kann nicht Sirion", erwiderte sie, „Ich muss es wissen."
Damit löste sie sich aus seinem Griff und ging weiter.
Aufgewühlt folgte Sirion ihr. Er fürchtete, dass Alvia da in Dinge hinein geriet, die deutlich zu groß für sie waren. Mit zu Boden gerichtetem Blick folgte er ihr, die Gedanken wild umher rasend.
Beinahe wäre er einfach weiter gegangen, sein Verstand verarbeitete gar nicht mehr, was er dort sah. Doch dann blieb er wie angewurzelt stehen und starrte auf das Holz der Hängebrücke zu seinen Füßen.
Ein totes Eichhörnchen lag dort.
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Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende Wald
FantasyDer junge Nachtelf Sirion wurde in die Kriegerkaste seines Volkes hinein geboren. Und so beginnt er, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist, die entbehrungsreiche Ausbildung zum Fledermausreiter. Doch in den Jahren seiner Ausbildung zum Krieger ver...