Rivalen - 2

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Die Zeit kroch förmlich vor sich hin, während Sirion über sein Pergament gebeugt da saß und sich mit konzentriert verbissener Miene mit Tyalems Übungslinien abmühte. Entnervt strich er sich eine Strähne seines schwarzen Haares aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte und ihn schon die ganze Zeit ablenkte. Seine zunehmend schmerzenden Finger waren um den Griff des Pinsels gekrampft und die immer wiederkehrenden Ermahnungen des Meisters, dass sie nur entspannt eine gute Linienführung erreichen würden, half wirklich nicht.
Frustriert legte er den Pinsel beiseite und schüttelte seine verkrampfte Hand aus. Ihm war jetzt schon klar, dass er Kaligraphie verabscheuen würde. Verstohlen sah er sich im Raum um.
Es wunderte ihn nicht, den genervten Blick Runams aufzufangen und zu sehen, wie Alvad die freie Hand unterm Tisch genervt zur Faust ballte. Neben ihm beugte sich Alvia dagegen hingebungsvoll über ihr Pergament und zog schwungvolle Linien. Auch Nymo und Larsol schienen gut mit den Übungen zurecht zu kommen, doch die allermeisten schienen lieber eine weitere Runde mit Tarbek drehen zu wollen.
Mit einem leisen Seufzer sah Sirion zur Stundenkerze hinüber, noch nicht einmal die Hälfte ihrer Lektion war vergangen. Als Meister Tyalem zu ihm hinüberblickte, griff er rasch wieder nach dem Pinsel und senkte den Blick auf seine Übungen.
Schritte näherten sich und schon bald spürte er den Krieger direkt neben sich stehen. Er musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass seine kläglichen Versuche streng taxiert wurden. Zu seinem Glück hatte Tyalem zumindest nichts größeres daran auszusetzen und ging einfach weiter hinüber zu dem Tisch, an dem Eynar und Femkana saßen. Kurz ließ er den Blick über ihre Arbeiten schweifen.
„Mmh", machte er und ging mit nur einem einzigen Wort weiter: „Üben"
Mit einem unterdrückten Kichern ob Eynars säuerlicher Miene tauchte Sirion seinen Pinsel in das Tintenfass. Da stoppte Tyalem neben den beiden Zwillingen. Über Alvads Versuche schüttelte er nur in milder Verzweiflung den Kopf, dann sah er zu Alvia. Sofort hellte sich die Miene des Meisters auf.
„Seht mal alle her!", rief er und griff nach dem Pergament der jungen Elfe.
Deutlich für alle sichtbar hob er ihre Übungen in die Höhe und tatsächlich hatte Alvia es geschafft, die Linien und Schwünge, die Tyalem ihnen gezeigt hatte, fast perfekt nachzuahmen.
„Das ist eine gute Arbeit!", lobte Tyalem überschwänglich und schenkte Alvia ein breites Lächeln, „Nehmt euch ein Beispiel an Alvia, sie ist eindeutig sehr talentiert."
Ganz begeistert musterte er Alvias Pergament, dann beugte er sich zu ihr hinunter, um mit ihr über die Übungen zu sprechen.
„Oh wäre die ach so talentierte Alvia vorhin doch gestürzt...", zischte Eynar, leise genug, dass Tyalem ihn nicht hören konnte, aber immer noch laut genug, um von Sirion bemerkt zu werden, „Dann müssten wir uns diesen Lobgesang nicht anhören!"
Heiße Wut kochte in Sirion hoch. Am liebsten wäre er aufgesprungen und Eynar direkt an die Gurgel gegangen. Doch Eyolf neben ihm packte ihn am Unterarm und hinderte ihn daran.
„Lass es", zischte der blonde Elf.
Wütend streifte Sirion die Hand seines Kameraden ab und fixierte Eynars Rücken. Ungestraft würde dieser ihm nicht entkommen.

Heute hatten die Novizen des ersten Jahres nur kurz Zeit für ihr Nachtmahl. Tyalems Ausführungen waren noch recht ausschweifend geworden und so schlangen sie hektisch ihre frittierten Pilze herunter, bevor sie zu Meisterin Gylledhs Unterricht eilten.
Wie in jeder Unterrichtsstunde erwartete sie Gylledh mit strengem Gesichtsausdruck auf dem Vorplatz des Novizenhauses. Der Exerzierplatz seitlich des Gebäudes war den Novizen der höheren Jahre vorbehalten. Sie durften bereits das Privileg des säulengetragenen Daches genießen, das sie zumindest etwas vor den Elementen schützte.
Wie es ihnen zur Gewohnheit geworden war, nahm sich jeder der jungen Elfen eines der hölzernen Übungsschwerter, die in Form und Länge den echten Schwertern eines Kriegers bereits sehr ähnelten. Schweigend reihten sie sich zu zweit auf, bereit, mit den Übungen zu beginnen. Mit einem kurzen Lächeln nickte Sirion Nymo zu, vor dem er sich wiederfand. Der immer sehr zurückhaltende Novize mit dem mausbraunen Haar erwiderte das Nicken und ließ vorsichtig das Schwert zum Aufwärmen in den Handgelenken kreisen.
Sie richteten die Blicke zu Meisterin Gylledh, die prüfend jedes einzelne Paar musterte. „Eyolf, du machst du ersten Übungen mit Darla", wies sie den Blonden an, der sich wie so oft zu seinem Freund Torren gestellt hatte, „Torren, du gehst zu Lelia. Ihr beide konzentriert euch sonst nicht auf eure Formen."
Mit unterdrücktem Seufzen wandten sich die beiden Elfen ihren neu zugewiesenen Partnerinnen zu und nahmen Aufstellung.
„Wiederholt eure Formen, Novizen!", kam die gewohnte Anweisung von Meisterin Gylledh und Sirion wandte sich Nymo zu. Langsam neigten sie die Köpfe voreinander, dann traten sie aufeinander zu und zogen in einer fließenden Bewegung ihre Schwerter.
Kurz verharrten sie voreinander. Aufs Äußerste gespannt stand Sirion da, hoch aufgerichtet, den Blick fest auf Nymos Augen gerichtet, den Atem ruhig und kontrolliert. Seine Hände schlossen sich um den Schwertgriff, fest und dennoch sacht, als würde er ein rohes Ei halten, wie Meisterin Gylledh es erklärt hatte. Nun war es ihm noch ein Leichtes, ihren Anweisungen Folge zu leisten. Bald jedoch, wenn sie ohne Pause wieder und wieder die gleichen Übungen wiederholten, würden Arme und Hände vollkommen verkrampft und erschöpft sein.
Nymos Schwert zuckte nach oben, schlug Sirions Schwert mit einem scharfen Schnicken beiseite und sauste dann wieder auf dessen Kopf zu. Mit einem kurzen Schritt wich Sirion zur Seite aus und griff seinerseits an. Eine knappe Handbreit vor Nymos nackter Stirn stoppte seine Holzklinge.
Ohne zu Blinzeln fixierte Nymo ihn, in einem Moment, in denen sie beide eine Feder zu Boden hätten fallen hören. Dann zog Nymo sich nur ein wenig zurück, das Zeichen für Sirion, seine Haltung zu lösen. Langsam und kontrolliert kehrten sie beide in ihre Ausgangshaltung zurück, still und konzentriert, bereit, die zweite Form zu üben.
Die Schwertformen, die Meisterin Gylledh sie nun seit zwei Monaten lehrte, waren eine festgelegte Abfolge an Schritten und Techniken, dazu gedacht, Körperhaltung, den Umgang mit dem Schwert und Bewegungsgrundlagen zu üben und zu festigen, bevor die Novizen mit ihren eigenen Schwertern den Kampf üben durften.
Von zwanzig Formen, die existierten, hatten Sirion und die anderen erst vier gelernt. Sie verbrachten Stunden damit, die gelernten Formen immer und immer mit wechselnden Partnern zu wiederholen, während Meisterin Gylledh umher ging und Fehler korrigierte. Und sie fand jedes Mal neue Fehler, selbst wenn es nur Kleinigkeiten waren, wie die falsche Neigung des Schwertes oder eine leichte Fehlstellung der Hand. Gylledh bestand darauf, dass alle Novizen jede Form fehlerfrei beherrschten, bevor sie ihnen die nächste lehrte.
Sirion träumte mittlerweile oft genug von den Schwertformen und sehnte sich bereits den Tag herbei, wenn er alle Formen beherrschen würde.
Er wich dem nächsten Hieb Nymos aus, diesmal war er fast ein wenig zu spät gewesen. Um nicht getroffen zu werden, riss er den Oberkörper beiseite, verlor dabei aber beinahe sein Gleichgewicht, sodass sein Gegenschlag eher einem Stolpern glich.
„Spannung Sirion!", bellte Meisterin Gylledh, der dieser kleine Patzer natürlich nicht entgangen war.
Ohne etwas zu erwidern gingen Sirion und Nymo zur nächsten Form über. Gylledh beobachtete die beiden einen Moment. An Nymo hatte sie wie so oft nichts auszusetzen. Mit eiserner Disziplin hatte der junge Mann sich die bisherigen vier Formen erarbeitet und bewies jedes Mal exzellente Kontrolle über seinen Körper. Während Sirion gerade die dritte Form besonders kniffelig fand. Es war eine komplexe Abfolge an Abwehr- und Stichbewegungen, die er jedes Mal durcheinander brachte.
„Mit der anderen Schwertseite abwehren...", zischte Nymo ihm zu, bevor Gylledh einschreiten konnte und rasch korrigierte Sirion seinen Fehler. Die Mundwinkel der Meisterin zuckten kurz belustigt, dann wandte sie sich dem nächsten übenden Paar, Sylire und Valmedar, zu.
Die Stunden verstrichen und in langsamem Rhythmus wechselten die Paare durch. Wie eine Gruppe schweigsamer Tänzer gingen sie immer und immer wieder hochkonzentriert die Bewegungsabläufe durch.
Mitternacht war schon lange verstrichen und die Monde Ruka und Synnvea, welche heute am Himmel gestanden hatten, neigten sich bereits dem Horizont entgegen. Sirion hatte längst aufgehört, zu zählen, wie oft er in dieser Nacht bereits die ersten vier Schwertformen wiederholt hatte. Die Bewegungsabläufe verschwammen in seinem erschöpften Kopf. Immer schwerer fiel es ihm, die erforderliche Konzentration und Kraft aufrecht zu halten. Er hatte keinerlei Energie mehr, an irgendwas anderes zu denken, als die Formen.
Das Schwert locker an der rechten Körperseite haltend, neigte er den Kopf vor Runam, mit der er eben zusammen geübt hatte, welche den Gruß erwiderte. Dann wandte er sich ab, um zu seinem nächsten Partner zu gehen. Vorsichtig ließ er die Schultern kreisen, um die verkrampfte Muskulatur zu entspannen. Er sehnte sich das Ende der Lektion herbei. Verstohlen hob er den Blick zum langsam heller werdenden Himmel. Es müsste bald Tag werden. Doch Gylledh wirkte noch nicht so, als wäre sie bereit, ihre Schüler für heute zu entlassen.
Um sie her erklang ein Rauschen, als hunderte Fledermäuse durch die Fluglöcher am Baumstamm nach draußen schossen zum letzten Flug der Nacht. Ihre feinen Stimmen vereinten sich zu dem vertrauten Gesang, der Sirion als Kind immer in den Schlaf gewogen hatte. Ein schwaches Lächeln zuckte über das Gesicht des Elfen. Wie gerne er sich jetzt in seine Hängematte kuscheln würde. Er war so unglaublich müde, wie sollte er sich jetzt noch weiter konzentrieren?
Sich einen Ruck gebend drehte er sich seinem nächsten Partner zu und sein Gesicht gefror zu einer zornigen Maske. Eynar sah ihm entgegen, das übliche blasiert arrogante Grinsen in seinen Zügen. Lässig zog der Rothaarige sein Schwert, das kurze Nicken des Kopfes zum Gruß vor der Übung war kaum zu sehen.
Na super, dachte Sirion sich, der mittlerweile vollkommen ausgelaugt war, von allen muss es ausgerechnet Eynar sein, für ihn fehlt mir jetzt wirklich der Nerv.
Es war nicht das erste Mal, dass er vor Eynar stand und gemeinsam mit dem verhassten Elfen eine Übung absolvieren musste. Normalerweise schaffte er es, dabei eine gleichgültige Miene beizubehalten, und spulte mechanisch die Bewegungen ab.
Oh wäre die ach so talentierte Alvia vorhin doch gestürzt..., echote Eynars hämische Bemerkung in seinem Kopf wieder und heiße Wut braute sich in ihm zusammen. Ruckartig zog er sein Schwert und ging auf Eynar zu, die Finger fest um den Griff geschlungen, seine Augen sprühten Funken.
Sein Gegenüber zog die Augenbrauen in die Höhe, sagte aber nichts, sondern nahm Aufstellung für die erste Form.
Die Augen nicht von Eynars blassen Gesichtszügen abwendend, folgte Sirion ihm und begann die Übung.
Scharf schlug er das Schwert Eynars beiseite, einen Ticken schärfer, als er es sonst tat. Elegant trat dieser zur Seite, dann schnellte sein Schwert hinab zu Sirions Kopf, wo es kurz davor stoppte.
Wortlos verharrten die beiden jungen Elfen. Das Blut rauschte in Sirions Ohren. Wie gern er Eynar das überlegene Lächeln aus dem Gesicht wischen wollte! Verführerisch spürte er das Gewicht des Schwertes in seinen Händen. Sein Gegenüber war ihm so nahe und er würde es sicher nicht erwarten. Es wär so leicht... Sirion nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen.
Er wich einen Schritt zurück, als Eynar sagte: „Denkst du, morgen stolpert wieder jemand?"
Sirion zog es vor, darauf nicht zu antworten.
„Wer meinst du, ist es das nächste Mal? Und ob Tarbek dann wieder einschreiten kann? Es heißt ja, dass während der Ausbildung auch Novizen sterben."
„Was bedeutet dir das schon?", knurrte Sirion wütend.
Eynar zuckte die Schultern. „Es wäre zu schade, wenn die Falschen verunglücken, meinst du nicht?", meinte er und ein gemeines Funkeln trat in seine Augen.
Sirions Hände begannen vor Zorn zu beben und die Spitze seines Schwertes erzitterte verräterisch. Einen Umstand, den Eynar sofort zu bemerken schien.
„Wir laufen jeden Abend so dicht hintereinander bei Tarbeks Training, findest du nicht?", fuhr Eynar flüsternd fort, „Die Gefahr, gegeneinander zu rempeln ist so hoch..."
Die Worte Eynars lösten ein schrilles Klingeln in Sirions Ohren aus. Er sah Eynar vor sich, wie er sich gegen Alvia warf, hörte den panischen Schrei der Elfe.
Mit einem Wutschrei warf Sirion sich nach vorne, das Schwert hoch erhoben. Jede Regel des Unterrichts hatte er vergessen.
„Sirion!", schrie jemand, doch da war er schon über Eynar und deckte den Elfen mit wilden Hieben ein.
Dieser jedoch schien darauf nur gewartet zu haben. Seine Klinge wehrte Sirions Schläge lässig ab. Er trat beiseite, sodass Sirion unkontrolliert vorwärts taumelte. Ein Stoß Eynars in seine Seite brachte ihn beinahe zu Fall.
Gerade so schaffte er es noch, sich auf den Füßen zu halten, da war Eynar schon bei ihm. Ein scharfer Schlag des Elfen in seine Bauchgegend schickte Sirion keuchend zu Boden. Ihm wurde übel. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, schlug er nach Eynars Knien. Der schmerzerfüllte Schrei des Rothaarigen war Musik in seinen Ohren.
„Stopp! Stopp! Was fällt euch ein?"
Die wuterfüllte Stimme von Meisterin Gylledh drang zu Sirion durch. Hände packten ihn und rissen ihn auf die Füße. Durch den Nebel der Übelkeit nahm er wahr, wie ihm das Schwert entwunden wurde. Vor sich sah er Eynar, der von Torren und Valmedar zurück gehalten wurde. Almina, die bereits Sirions Schwert trug, nahm Eynar nun auch das seine ab.
Da tauchte Gylledh vor seinem Gesicht auf. Die Züge der Elfe waren weiß vor Zorn, sie holte aus und schlug Sirion voller Wucht ins Gesicht. Dann drehte sie sich um und verpasste Eynar ebenfalls eine Ohrfeige.
„Noch nie haben sich zwei Novizen derart unehrenhaft verhalten! Sich prügeln? Was fällt euch ein! Noch nie habe ich etwas Derartiges erlebt! Schämt euch! Ihr besudelt das Ansehen unserer Kaste mit diesem unwürdigen Verhalten! Habt ihr denn gar nichts verstanden?", schrie sie.
Stille kehrte ein. Sirion bebte noch immer vor Wut. Er sah zu Eynar hinüber. Der Elf hatte gedroht, einen seiner Freunde vom Baum zu stoßen. Anders konnte er seine Aussage gar nicht gemeint haben. Eynar erwiderte Sirions Blick kalt und voller Hass. Die Novizen um sie her schwiegen betroffen.
Gylledh atmete tief durch.
Dann sah sie zwischen Eynar und Sirion hin und her.
„Ihr habt gezeigt, dass ihr beide nicht die Reife besitzt, die mein Unterricht erfordert. Daher seid ihr ab nun von den Lektionen ausgeschlossen.", sagte sie kühl.
Erschrocken sah Sirion sie an. Die Schwertformen, die Gylledh lehrte, waren wichtiger Bestandteil ihrer ersten Prüfungen. „Aber Meisterin,", fragte er, „was ist mit den Prüfungen?"
Ein schmales Lächeln zog über das Gesicht der Elfe.
„Darüber hättet ihr nachdenken sollen, bevor ihr euch in meinem Unterricht prügelt."


Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt