Sirions Muskeln brannten wie Feuer. Mit aller Macht konzentrierte er sich darauf, weiter zu laufen, immer weiter zu atmen, ruhig und gleichmäßig, die zunehmenden Schmerzen zu ignorieren und nicht ins Keuchen zu geraten. Kontrolle über den Atem war essentiell, das war eine der wenigen Anweisungen, die sie von Meister Tarbek gehört hatten.
Nur schemenhaft nahm Sirion den neben ihm laufenden Novizen Torren wahr, während sie Meister Tarbek beim allabendlichen Trainingslauf folgten. Stur hatte Sirion den Blick auf Runam vor ihm gerichtet, ließ sich gleichermaßen von ihren Bewegungen mitziehen.
Der Elf führte seine Schar wie immer die große Treppe hinab zum Heiligtum Arvias, dann wieder nach oben.
Bald würden sie das Haus der Novizen erreichen. Sehnsüchtig glitt Sirions Blick nach oben, wo er bereits meinte, das vertraute Gebäude zu erkennen, als die Elfen vor ihm plötzlich nach rechts abbogen.
Nicht auf den plötzlichen Richtungswechsel gefasst, stolperte er, stieß beinahe gegen Torren, schaffte es dann aber doch, die Kurve zu kriegen.
Sie liefen einen schmalen Pfad entlang, hindurch zwischen einigen Häusern, die im unteren Viertel der Krieger standen, noch ein gutes Stück unterhalb ihres Ziels.
Leises Raunen ging durch den Tross, zu viel mehr hatte keiner von ihnen Atem, auch wenn die abendlichen Läufe schon deutlich reibungsloser abliefen als noch im Winter. Sie alle hatten an Ausdauer und Kraft gewonnen, es kam nur noch selten zu Stürzen.
Sirion vermutete mit düsterer Vorahnung, dass Meister Tarbek genau dies bemerkt hatte und beschlossen hatte, die Anforderungen nun etwas anzuheben. Wie immer hatte er sie nicht vorgewarnt oder irgendetwas erklärt. Bei ihm mussten die Novizen selbst herausfinden, was von ihnen verlangt wurde.
Der Weg bog zur Seite ab, Tarbek jedoch lief weiter geradeaus und hielt auf den hüfthohen Zaun zwischen zwei Häusern zu. Nun kam der gleichmäßige Trott der Novizen doch ins Schwanken. Was hatte der Krieger vor?
Mit einem Satz schwang sich Tarbek über den Zaun und lief, ohne abzuwarten, weiter. Hektisch mühten sich die Novizen, ihm zu folgen. Die ersten schwangen sich über den Zaun, für die hochgewachsene Runam vor Sirion war es relativ einfach, über das Hindernis hinweg zu setzen.
Sirion legte seine verschwitzten Hände auf das Holz. Rasch war ihm klar, dass ihm für einen richtigen Sprung schlicht die Kraft fehlte. Also setzte er einen Fuß auf die untere Sprosse und stieg mehr schlecht als recht über den Zaun. Torren neben ihm verhedderte sich und wäre beinahe gestürzt, hätte Sirion nicht schnell zugepackt.
Weiter ging es auf dem nun unbefestigten, nackten Ast.
Schwindelerregend gähnte der Abgrund nun zu ihren Seiten. Tief unter ihnen konnte Sirion die mächtigen Wurzeln des Baumes erkennen und den Waldboden. Ein Sturz wäre tödlich.
Mit einem Mal schlug das Herz ihm bis zum Hals und das nicht nur vor Anstrengung. Die Rinde unter seinen Stiefeln erschien ihm unheimlich glitschig und der Ast war so schmal. Was wenn er gegen Torren stieß? Was, wenn hinter ihm jemand stolperte und gegen ihn stieß?
Kalte Angst erfüllte ihn. Jetzt durfte ihm kein Fehler passieren!
Die Anspannung, die die Novizen ergriff, war beinahe greifbar. Sirion und Torren tauschten einen panischen Blick. Selbst der immer so gut gelaunte und manchmal etwas vorlaute Elf mit dem kupferfarbenen Haar schien Angst zu haben.
Nur geringfügig drosselte Tarbek das Tempo. Schon bald war der Ast, auf dem sie liefen, nicht mehr breit genug für zwei Elfen, sodass sie sich hintereinander einreihten. Mit panisch klopfendem Herzen um sein Gleichgewicht kämpfend breitete Sirion die Arme etwas aus, um so besser die Balance zu halten. Hatten seine Stiefel überhaupt genug Profil, um hier auf dem nackten Holz zu laufen?
Eine Windböe kam auf und zerrte an ihm. Ungebetene Bilder, wie er unaufhaltsam in die Tiefe stürzte, wirbelten durch Sirions Geist.
„Aufpassen Novizen!", schallte Tarbeks Stimme durch die laue Abendluft. Der Krieger wandte sich nach links und machte einen Satz durch die Luft. Lautes Rufen der jungen Elfen folgte ihm, als er auf einem benachbarten, etwas breiteren Ast landete.
Mit einer Mischung aus Faszination und Angst starrten die Novizen zu ihrem Meister hinüber, der nicht weit weg von ihnen stand und nun winkte, dass sie ihm folgen sollten. So nah war es und doch so unglaublich weit, durch einen furchtbaren, schwindelerregenden Abgrund von ihnen getrennt.
Sirion schob sich ein Stückchen vor und spähte nach unten. Irgendwo tief unter ihm konnte er den Waldboden erkennen. Sofort wich er wieder zurück, das Herz wild pochend.
Ungläubig blickte er zu Tarbek hinüber.
Die Novizen tauschten unsichere Blicke, dann nahmen sich die ersten ein Herz. Valmedar und Eyolf holten auf dem schmalen Stück Ast Anlauf und setzten dann über. Ein wenig wackelig, aber sicher landeten sie bei Tarbek.
Nun folgten auch die anderen nach und nach. Ylva und Nymo, sowie Femkana waren die nächsten. Alvad sprang mit leichtfüßiger Eleganz über den Abgrund, dann folgte seine Schwester. Die Angst stand Alvia deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie holte Anlauf und setzte zum Sprung an. Doch ein Fuß rutschte ihr weg. Mit einem gellenden Schrei fiel sie unkontrolliert nach vorne, die Arme hilfesuchend ausgestreckt.
Ein entsetzter Aufschrei ging durch die Gruppe der Novizen. „Alvia!", rief Sirion, sein Herz vergaß beinahe, zu schlagen.
Tarbek machte einen Satz nach vorne. Wie durch ein Wunder bekam Alvia den Ast zu fassen, auf dem der Meister stand. Mit der Kraft der Verzweiflung krallten sich ihre Finger in die Rinde.
„Hier Mädchen!", rief Tarbek, der sofort bei ihr war. Rasch packte er die Novizin am Handgelenk und zog sie empor.
Alvia war noch bleicher, als es für eine Nachtelfe gewöhnlich war. Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Schreck und sie bebte am ganzen Leib. Alvad schob sich zwischen den anderen hindurch, genauso blass wie sie und schlang die Arme um seine Schwester.
„Tu mir das nicht noch einmal an, Nachtplage!", schimpfte er mit Tränen in den Augen und hielt sie fest an sich gedrückt.
Erleichtert atmete Sirion tief durch. Beinahe hätten sie Alvia verloren. Ein unruhiges Raunen ging durch die Gruppe der Novizen. Spätestens jetzt war auch dem Letzten von ihnen klar, dass diese Ausbildung lebensgefährlich war.
Tarbek versicherte sich mit einem Blick, ob Alvia auch unverletzt war, dann sah er zu den wartenden Novizen, die noch nicht gesprungen waren.
Die nächsten waren wieder deutlich vorsichtiger, nachdem sie gesehen hatten, was passiert war.
Schließlich kam die Reihe an Sirion, der mit pochendem Herzen vortrat. Abschätzend sah er zwischen den beiden Ästen hin und her. Das Bild der strauchelnden Alvia schoss ihm durch den Kopf. Nein, daran durfte er nicht denken!
Er machte zwei Schritte zurück, holte tief Luft und rannte los. Schneller als ihm lieb war, erreichte er den Abgrund und sprang mit aller Kraft ab. Einen beängstigenden und gleichzeitig berauschenden Moment lang flog er durch die Luft, Wind im Haar und die Nacht um ihn her, da landete er neben Meister Tarbek, der ihm kurz anerkennend zunickte und dann sich den anderen Novizen zuwandte.
Nur wenig später waren alle auf dem zweiten Ast versammelt und Tarbek ließ einen kurzen, prüfenden Blick über die Gruppe gleiten. Dann wandte er sich nach links und trabte im Laufschritt zur Erleichterung aller wieder auf die Häuser zu. Aufatmend hob Sirion den Blick zum Haus der Novizen hinüber, dem sie sich nun endlich wieder näherten.
Laut knurrend meldete sich Sirions Magen zu Wort, als Tarbek seine Schützlinge zum Frühmahl entließ. Suchend glitt sein Blick umher, bis er die Zwillinge in der Gruppe entdeckte. Alvad hatte noch immer einen Arm um seine Schwester gelegt, der Schock, sie eben fast verloren zu haben, stand ihm noch sehr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Mit raschen Schritten schob Sirion sich zu den beiden durch. „Alvia!", rief er und zog die junge Elfe erleichtert in die Arme, als er bei ihnen war, „Wie geht es dir? Bist du verletzt?"
Sie nickte und löste sich rasch wieder von ihm. „Mir geht es gut. Ich hab mir nicht weh getan. Es ist ja nichts passiert.", erwiderte sie.
„Das sehe ich aber anders...", brummte Alvad finster neben ihr, „Was fällt Tarbek überhaupt ein, uns nach einem so anstrengenden Lauf auch noch sowas abzuverlangen?"
Alvia legte beschwichtigend eine Hand auf den Arm ihres Bruders. „Kommt,", sagte sie dann, „lasst uns schnell etwas essen." Sie holten sich ihre Portion und hockten sich zu Almina, Runam und Larsol an einen Tisch.
Während des gesamten Frühmahls schimpfte Alvad leise vor sich hin, über Meister Tarbek, über den abendlichen Trainingslauf, über den Baum, auf dem Alvia ausgerutscht war, über ihre mangelhaften Stiefel, über das Wetter, was sicher auch einen Einfluss gehabt hatte...
Alvia dagegen schien sich von ihrem Schreckmoment ganz gut erholt zu haben und stürzte sich mit wahnsinnigem Appetit auf ihre Portion gebratener Eier mit Kastanienbrot. Mit einem Schmunzeln entschied Sirion, auf Alvads Geschimpfe nicht weiter einzugehen und es Alvia gleich zu tun.
„Kennt jemand von euch Meister Tyalem?", erkundigte sich Almina bei den anderen. Die gesamte Runde schüttelte die Köpfe.
Am Vorabend war ihnen angekündigt worden, dass sie heute ihre erste Lektion in der Kunst der Kalligraphie erhalten würden. Meister Tyalem würde sie hier unterweisen.
„Ich verstehe ja nicht so ganz, warum wir uns mit so etwas befassen sollen", knurrte Runam und nahm mit grimmiger Miene einen Schluck von ihrem Kräutertee.
„Das wird man uns sicher erklären", erwiderte Sirion und räumte sein Besteck zusammen.
„Nur, wenn Meister Tyalem nicht so drauf ist, wie Meister Tarbek", warf Alvia ein, „Kommt, wir sollten nicht zu spät kommen."
Sie erhoben sich und sammelten ihre leeren Teller und Tassen ein, um sie zur Durchreiche in die Küche zu bringen. Sirions Blick fiel auf den Nachbartisch, wo er Eynar zusammen mit Femkana erblickte. Der rothaarige Elf fing seinen Blick auf. Sein Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse und er wandte sich wieder ab.
Ein mittlerweile sehr bekanntes Gefühl von Zorn und Abneigung braute sich in Sirions Magengrube zusammen. Noch immer wusste er nicht, was der Grund hinter Eynars Reaktion auf ihn war. Doch mittlerweile beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit. Sirion mühte sich, Eynar aus dem Weg zu gehen, dessen arrogante Art ihn jedes Mal reizte. Der Elf benahm sich, als würde er über ihnen allen stehen. Von den meisten wurde sein Verhalten mehr oder weniger geduldet, da er nur Sirion und die Zwillinge gezielt attackierte, die Novizin Femkana hing ihm geradezu am Rockzipfel. Was gut zusammen passte, denn auch sie verzog bei dem Anblick der anderen Novizen gerne die Nase.
Runam sagte regelmäßig, Sirion solle Eynar doch einfach ignorieren und er versuchte sich, an ihren Ratschlag zu halten. Doch so ganz gelang es ihm nicht und er freute sich jedes Mal diebisch, wenn Eynar von einem der Meister korrigiert wurde.
„Kommst du, Sirion?", holte ihn Alminas Stimme wieder aus seinen Gedanken. Die kleinwüchsige Elfe winkte ihm zu und so schloss er rasch zu den anderen auf. Nymo und Lelia gesellten sich noch zu ihnen und gemeinsam stiegen sie die Treppe zu den Unterrichtsräumen hinauf.
Meister Tyalem, ein fast weißhaariger Elf, der noch relativ jung für seinen Rang wirkte, erwartete sie bereits. Er reichte Alvad und Larsol einen Stapel Pergamentrollen, sowie Pinsel und Tintenfässchen zum Verteilen und wartete selbst still in einer Ecke stehend ab, während sich der Raum langsam füllte.
Nach einem kurzen Blick auf die Stundenkerze an seiner Seite, sagte er mit sanfter Stimme: „Schließt bitte die Tür"
Eyolf, der der Tür am nächsten saß, griff nach hinten und zog sie ins Schloss. Stille kehrte ein und Meister Tyalem begann zu sprechen:
„Die Kunst der Kalligraphie... Detail, Ruhe, Aufmerksamkeit und Schönheit. Dinge, die im Gegensatz zu der Kriegskunst stehen, richtig?"
Ein leises Raunen ging durch die Reihen der Novizen, während sie sich gegenseitig Blicke zu warfen.
„Falsch!", rief Tyalem, „Stets konzentriert, aufmerksam und in Ruhe zu agieren, ist die höchste Kunst, die ein Krieger erlernen kann. Ihr werdet darauf vorbereitet, Leben zu nehmen, zu töten. Und ihr könnt nur die Tragweite und die ungeheure Verantwortung dieses Handwerks verstehen, wenn ihr euch darin übt in Aufmerksamkeit und Ruhe jedes Detail der Schönheit des euch umgebenden Lebens zu erkennen."
In genau diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und die nach Atem japsende Sylire stand im Türrahmen. „Verzeihung!", keuchte sie, richtete ihr verwuscheltes blondes Haar und eilte auf den letzten freien Stuhl zu.
Tyalem zog eine Augenbraue in die Höhe. „Melde dich nach dem Unterricht bei mir, Mädchen. Du wirst eine Sonderaufgabe bekommen.", wies er sie an, dann ging er wieder zu seinem Vortrag über und deutete auf die Pergamente vor ihnen. Sylire derweil vergrub beschämt das Gesicht in den Händen.
„Wir werden heute noch nicht mit Buchstaben anfangen. Erstmal sollt ihr euren Pinsel kennen lernen. Ich werde euch einfache Übungslinien zeigen, mit denen ihr ein Gefühl dafür entwickeln sollt."

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Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende Wald
FantasyDer junge Nachtelf Sirion wurde in die Kriegerkaste seines Volkes hinein geboren. Und so beginnt er, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist, die entbehrungsreiche Ausbildung zum Fledermausreiter. Doch in den Jahren seiner Ausbildung zum Krieger ver...