Unbewegt starrte Thorasal auf den Toten zu seinen Füßen.
Sein ausdrucksloses Gesicht stand im krassen Kontrast zu den Zügen des alten Mannes, die in Grauen und Entsetzen verzerrt waren. Anklagend sahen seine leeren Augen zu dem jungen Mann hoch, der ihm so brutal das Leben genommen hatte, dem er zeitweise wie ein Vater gewesen war.Kalte Gleichgültigkeit schloss sich um Thorasals Herz. Der Alte hatte seinen Tod selbst verschuldet.
Er hätte ihm nur geben sollen, wonach es ihm verlangt hatte. Dann wäre er noch am Leben, einfacher, vertrauensseliger Narr, der er gewesen war.Der Wind fuhr durch das brusthohe Gras um Thorasal her und verfing sich in den Strähnen seines langen blonden Haares. Lagen da nicht Worte in der Luft? Wisperte der Wind ihm nicht all die Unterhaltungen zu, die sie beide hier in den letzten Jahren geführt hatten? Und waren da nicht die zornigen Stimmen eines Streites, der noch gar nicht so lange zurück lag?
Verächtlich schnaubte der junge Alb.
Nie hatte der Alte ihn verstanden. Nie hatte er all den Schmerz wirklich nachvollziehen können, seine Wut und seinen Hass schulterzuckend abgetan. Und geweigert hatte er sich, etwas gegen all die Ungerechtigkeit in ihrem Leben zu unternehmen.
Schwach war er gewesen. Verdient hatte er es, zu sterben. Denn die Hände hatte er lieber in den Schoß gelegt anstatt für sein Volk zu kämpfen!
Sein Tod war selbst verschuldet.Die grünen Augen des jungen Mannes richteten sich auf seine geschlossene recht Faust.
Langsam hob er die Hand und öffnete die Finger.
Auf seiner Handfläge lag ein schlichter Lederbeutel, aufgehängt an einem Lederband, das der Alte immer gepflegt hatte um seinen Hals zu tragen. Vorsichtig, beinahe zärtlich, öffnete Thorasal den Lederbeutel und griff hinein.Hervor holte er das Bruchstück eines milchig weißen Quarzes, heraus gebrochen aus einem einst deutlich größeren Stein, nun nur noch in etwa so groß wie sein Daumen. Sachte fuhren seine Finger über die weiche glatte Fläche und die scharfen Abbruchkanten des Quarzes.
Beinahe konnte er es nicht glauben, dass er dieses begehrte Kleinod endlich in Händen hielt. Mit angehaltenem Atem starrte er auf den Quarz, den Ermordeten vor seinen Füßen komplett vergessend.
Wie lange hatte er darauf gewartet, diesen Schatz endlich sein eigen nennen zu dürfen! Der Alte hatte ihn doch nie richtig genutzt. Zu weich und zu schwach war er für die Macht gewesen, die er besessen hatte!Doch nun hielt er das Bruchstück in den Händen, einen Teil vom uralten Erbe seiner Vorfahren, war die Magie der Alben uneingeschränkt sein.
Berauschendes Glücksgefühl floss durch ihn hindurch und ein Lachen brach aus Thorasal hervor. Die Welt lag ihm zu Füßen und sie sollte erzittern vor seiner entfesselten Macht.
Er schloss die Finger um den kostbaren Stein, schob ihn zurück in seinen Beutel und hängte sich das Lederband um den Hals. Tief atmete er durch. Frei fühlte er sich und voller Kraft.Er wandte sich um und ging durch das hohe, im Wind wehende Gras davon. Keinen Blick mehr schenkte er dem Toten.
DU LIEST GERADE
Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende Wald
FantasyDer junge Nachtelf Sirion wurde in die Kriegerkaste seines Volkes hinein geboren. Und so beginnt er, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist, die entbehrungsreiche Ausbildung zum Fledermausreiter. Doch in den Jahren seiner Ausbildung zum Krieger ver...