Kapitel 1

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Flimmernd lag die weitläufige Steppe in der Mittagssonne, in der Jäger und Gejagte vergeblich nach Schatten und Unterschlupf suchten. Die karge Landschaft im Norden des Landes Azura zeichnete sich insbesondere durch fehlende Wälder und minimale Vegetation aus. Der wenige Niederschlag im Jahr reichte nicht aus, Flora und Fauna zum Wachsen zu bringen. Nur geübte Jäger waren hier in der Lage, Beute zu finden, ohne den wilden Tieren ein Mahl zu bieten.

Der Sand unter ihren Fußsohlen knirschte bei jedem Schritt und wurde durch eine Windbrise aufgewirbelt. Wie tausend feine Nadelstiche stach er in ihre Haut und erschwerte das Weiterkommen genauso wie die in der Sonne glühenden Steine.

Und doch rannte Khione, so schnell ihre Beine sie trugen, den imposanten Bergen am Horizont entgegen. Keuchend und nach Luft schnappend setzte sie einen Schritt nach dem anderen, ohne auf die Schmerzen in ihrem Körper zu achten. Selbst ihre Atemnot ließ sie nicht anhalten.

Wie sonst hatte sie eine Möglichkeit, ihren Entführern zu entkommen? Vor einigen Wochen waren sie in Khiones Heimatdorf eingefallen und hatten es binnen Stunden in Schutt und Asche gelegt. Bei der aussichtlosen Verteidigung hatten viele ihr Leben in den züngelnden Flammen verloren.

Seither verging keine Nacht, in der Khione schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte und glaubte, den Geruch von verbranntem Menschenfleisch wahrzunehmen. Selbst in ihren Träumen wurde sie von den gellenden Schreien und grausamen Bildern verfolgt.

Seit dem Überfall reisten die grässlichen Männer durch das Land und boten die gefangen genommenen Frauen wie Vieh auf den Sklavenmärkten in den Städten an. Allen voran Kinder und Jungfrauen, für die hohe Summen auf den Tisch gelegt wurden. Daher vergingen sich die Entführer nur an verheirateten Frauen, aber Khione fiel oft auf, wie sie die Jüngsten mit hungrigen Augen auszogen.

Angewidert zog Khione ihre Schultern nach oben und rannte weiter.

Niemals würde sie eine Sklavin sein und die Lust anderer befriedigen! Eher würde sie sich von den Wildtieren fressen lassen! Dazu musste sie aber den Entführern und deren Gewalt erst einmal entkommen!

Über die Steppe hinweg vernahm sie donnernde Geräusche und wildes Hundebellen. „Verdammt", fluchte sie und biss die Zähne zusammen. Ihr Verschwinden im Morgengrauen war nicht unbemerkt geblieben. Es wäre den Männern eine Wohltat, den sabbernden Hunden dabei zuzusehen, wie sie die junge Frau zerfleischten, aber da sie als Sklave verkauft werden sollte, war sie wenigstens davor sicher.

Khione drehte sich um und sah in der Ferne eine Gruppe an Reitern in halsbrecherischem Tempo auf sie zupreschen. Hinter ihnen zog sich eine dichte Staubwolke.

Das trieb Khione dazu an, ihre Schrittlänge zu erweitern. Gehetzt sah sie nach links und nach rechts und danach in den Himmel, als ein Adlerschrei ihre Aufmerksamkeit weckte. Hoch oben kreiste das majestätische Tier und war so frei, dass Khione es beneidete.

Auf dem offenen Gelände hatte sie keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken. Die flachen Hügel boten keinen Schutz, sondern erschwerten und verlangsamten ihre Flucht. Der rissige Boden war eine zusätzliche Hürde. Er wurde von den wenigen Pflanzen verdeckt, die sich trotz der ungünstigen Witterungsbedingungen tapfer am Leben hielten. Ihre Stacheln bohrten sich in Khiones Fußsohlen, kratzten an ihren Knöcheln und hinterließen eine Blutspur, die mit Hunden leicht zu verfolgen war.

Trotz aller Umstände würde sich Khione nicht ohne Kampf geschlagen geben, aber ihre Mühen waren vergebens.

Ihre Energie neigte sich dem Ende zu und sie wurde langsamer. Keuchend stolperte sie einige Schritt und sank kraftlos auf ihre Knie. Nach Luft ringend hielt sich Khione ihre Seite und stutzte, als sie eine Bewegung am Fuß der Gebirgskette ausmachte. Spielte ihr die Hitze einen Streich und ließ sie dunkle Flecken sehen? Oder lag es an ihrem Flüssigkeitsmangel, der an der kaum vorhandenen Versorgung der Entführer lag?

„Gleich haben wir sie!"

Diese grollende Stimme würde Khione überall wiedererkennen. Er, der vor allem die Kinder zu ekelhaften Berührungen an sich selbst zwang. Mit ihm hatte sie sich von Anfang an angelegt, indem sie die Kleinsten beschützt hatte. Eine normale Lautstärke kannte er nicht. Sobald er seinen Mund öffnete, schossen die Befehle wie Peitschenhiebe heraus, mit denen er sogar die anderen Männer einschüchterte.

Keuchend rappelte sich Khione auf, doch eine Schwindelattacke ließ sie straucheln. Zitternd drehte sie sich zu ihren Verfolgern um und hörte ein Surren in der Luft, wofür sie den Schwindel verantwortlich machte.

Im Bruchteil einer Sekunde später traf sie etwas von hinten. Von der Wucht übermannt fiel sie erneut auf die Knie und sah mit aufgerissenen Augen auf den Pfeil, der sich durch ihre rechte Schulter bohrte. Von der hölzernen Spitze tropfte Blut auf den Boden.

Ein brennendes Kribbeln breitete sich in Khiones Körper aus, das sich wie flüssige Lava quälend langsam durch ihre Venen schlängelte und sie lähmte. Sie verlor die Beherrschung über ihre Bewegungen und landete mit dem Gesicht voran plump im Sand.

Obwohl sich alles in ihrem Kopf drehte, nahm sie deutlich Vibrationen im Boden wahr. Ähnlich wie die Erdbeben, die manchmal die Bewohner der Städte aufschreckten und Gebäude zum Einstürzen brachten.

Die Schmerzen in Khiones Körper wurden zur Tortur, als der Staub vor ihr aufwirbelte. Dank des Kontrollverlusts war sie weder in der Lage ihre Augen noch ihren Mund zu schließen. Mit starren Blick war Khione dazu verdammt, bewegungslos liegen zu bleiben. Sobald sich die Wolke legte, erkannte sie verschwommen nackte Füße neben sich stehen, die sich an die bronzefarbene Erde anpassten.

Tiefe, grollende Stimmen in einer fremden Sprache und ein Gebrüll, das die Pferde wiehern ließ, waren das Letzte, das Khione mitbekam, ehe sich alles um sie herum verdunkelte.

Araki - Krieger des NordensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt