Zwanzig Minuten…
Mit gerunzelter Stirn wende ich meinen Blick von der Kirchturmuhr auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab und lasse ihn erneut nach rechts und links über den
Bürgersteig schweifen.Das güldene Licht der untergehenden Abendsonne hüllt die Menschen, welche eilig an mir vorbeihuschen oder mit demonstrativer Gelassenheit den Gehweg entlang schreiten, in einen funkelnden Schimmer, welcher mir vereinzelt die Sicht auf die Gesichter der verschiedenen Personen erschwert.
Denn schließlich halte ich nur nach dem Gesicht einer einzigen und ganz bestimmten Person Ausschau.
Und das seit etwas mehr als zwanzig Minuten…Ein verhaltener Seufzer entfährt meiner Brust, als ich in meiner Handtasche nach meinem Diensthandy fische und es nur wenig später hervorziehe, bevor ich es nach einem kurzen Blick auf dessen Display mit einem weiteren Seufzer wieder in meiner Tasche verschwinden lasse.
Keine Nachricht von Johanna Schröder.
Und auch einen versäumten Anruf oder eine Benachrichtigung seitens der Agentur über eine eventuelle Absage scheint es nicht gegeben zu haben.Ich verstehe das nicht...
Ein solch unzuverlässiges Verhalten passt doch gar nicht zu einer Frau, der Disziplin und Exzellenz so wichtig sind…
Habe ich mich etwa mit dem Tag geirrt?
Aber nein, das ist ausgeschlossen.
Schließlich habe ich unser Treffen gleich in meinem Handykalender vermerkt, nachdem wir es nach unserem Cafébesuch vereinbart hatten.
Da bleibt eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass sie aufgehalten wurde.
Und wenn dem so sein sollte, werde ich mich wohl weiter in Geduld üben müssen…Nur mäßig zufrieden mit dieser Schlussfolgerung rücke ich den Halter meiner Handtasche über meiner Schulter zurecht und lasse meine Augen erneut über den gepflasterten Bürgersteig wandern, bis diese nach einer leichten Kopfdrehung über die schneeweiße Außenfassade des „Belle Vie“ hinter mir gleiten.
Ob Frau Schröder des Öfteren in diesem edlen Etablissement speist?
Schließlich hat sie gleich dieses Restaurant als unseren abendlichen Treffpunkt vorgeschlagen…Andererseits war unser erstes Treffen im „Rich & Pour“ auch ihre Idee gewesen und es schien ihr alles andere als geläufig gewesen zu sein, dass man dort am Wochenende um die Mittagszeit nur mit äußerst viel Glück…oder entsprechenden Beziehungen…noch einen freien Tisch bekommt.
Aber vielleicht wurde sie bislang dorthin auch immer nur eingeladen und wusste es aufgrund dessen nicht besser.
Zu einer mittäglichen Kurzbesprechung von Geschäftspartnern oder zu einem Kaffee-Plausch von…Freunden?Grübelnd ziehe ich meine Augenbrauen über diesen Gedanken zusammen.
Hat eine Frau wie Johanna Schröder überhaupt so etwas wie…Freunde?
Ich meine, trotz dessen dass ich bislang nur wenige Stunden in ihrer Gesellschaft verbracht habe, wirkte sie da auf mich nicht unbedingt wie jemand, der einen besonderen Wert auf sein Privatleben legt und stattdessen vollends auf seinen beruflichen Erfolg fokussiert ist.
Allein der unterschwellige Stolz, mit welchem sie mir vor einer Woche von ihrer Arbeit als Architektin erzählt hat, ist dafür Beweis genug.
Und die Abgeklärtheit, mit welcher sie über das Scheidungsvorhaben ihres Noch-Ehemannes gesprochen hat, unterstreicht dies nur noch zusätzlich.Objektiv betrachtet scheint es daher eine durchaus logische Schlussfolgerungskette zu sein,
dass sie sich nicht allzu sehr für ihr Leben außerhalb ihrer Arbeit interessiert…wobei sich mir in diesem Zuge ein Punkt immer noch nicht ganz erschließt…Wenn Johanna Schröder tatsächlich in die stereotypische Rolle einer arbeitssüchtigen Business Woman fallen sollte, warum trifft sie sich dann mit mir?
Schließlich bilde ich eine wie auch immer geartete Ergänzung zu ihrem Privatleben, welche sie im Grunde genommen doch nur von ihrer Arbeit abhält.Bei unserem Treffen schien Frau Schröder gerade zu Anfang alles andere als angetan von mir zu sein, obwohl sie mich ja für dieses Treffen aus all den anderen Escortdamen ausgewählt hat.
Und wenn sie für sich festgestellt haben sollte, dass ich nicht die richtige Begleitung für sie bin, was ja nicht weiter tragisch ist und auch durchaus mal vorkommt, hätte sie doch ganz gewiss nicht auf ein weiteres Treffen mit mir bestanden!
Und auch um eine eventuelle unausgelebte körperliche Fantasie ihrerseits kann es sich bei ihrer Treffensabsicht nicht handeln, da sie eine in diese Richtung gehende Entwicklung bereits kategorisch abgelehnt hat!
Was also ist ihr wahrer Beweggrund, sich mit mir zu treffen?Frustriert über diese unbefriedigende Ungewissheit seufze ich erneut auf, dieses Mal um einiges tiefer, und lasse meinen Blick erneut zu der Kirchturmuhr wandern, welche mir mittlerweile eine halbstündige Verspätung von Frau Schröder anzeigt.
Ob sie es sich im letzten Moment vielleicht doch noch anders überlegt hat?
Allzu lange werde ich jedenfalls nicht mehr auf sie warten, wenn sie sich nicht bald bei mir melden sollte…Das energische Klacken spitzer Absätze lässt mich den Kopf nach rechts drehen und meine Augenbrauen heben sich ein kaum merkliches Stück, als ich endlich die grazile Gestalt von Frau Schröder am Bürgersteigsende erblicke, die mit zielsicheren Schritten auf mich zutritt.
Ihr engelblondes Haar wird durch die letzten Sonnenstrahlen des Tages von einem goldenen Flimmern umgeben und ihre wohlgeformte Figur wird von einem eleganten Kostüm aus
platingrauem Stoff auf derart schmeichelnde Weise umschlossen, dass ich um ein Haar über diesen atemberaubenden Anblick ihren leicht verzogenen Gesichtsausdruck übersehen hätte.Beinahe so als hätte sie sich…über etwas geärgert?
Ich verberge meine wachsende Verwunderung hinter einem geübten Lächeln und drehe mich vollends in ihre Richtung, als die begnadete Architektin nur wenige Schritte vor mir stehen bleibt.
„Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung“, begrüßt mich die blonde Frau, wobei die Anspannung in ihrer Stimme deutlich ihren nur schwerlich gezügelten Unmut verrät, „ein derart verzögertes Erscheinen entspricht wirklich nicht meiner üblichen Verhaltensweise bei einer Verabredung. Auch wenn sich dieser Umstand geradezu hervorragend in die bisherigen Vorkommnisse des heutigen Tages einreiht…“
Auch wenn der letzte Satz aufgrund seiner gedämpften Lautstärke vermutlich mehr Frau Schröder selbst als meiner Person gegolten hat, habe ich ihn trotzdem bestens verstanden.
Dann scheint mich mein anfänglicher Eindruck wohl doch nicht getäuscht zu haben, dass sie sich über irgendetwas geärgert hat…
„Seien Sie bezüglich ihrer Verspätung bitte unbesorgt, Frau Schröder“, erwidere ich und übergehe das zweifelnde Stirnrunzeln der Architektin mit einem vielsagenden Zwinkern, „schöne Frauen haben es verdient, dass man auf sie wartet.“
„Oh, bitte“, die blonde Frau vollführt mit ihren fein manikürten Fingern eine wegwerfende Handbewegung, „dadurch, dass ich beim Verlassen des Büros noch von meinen beiden
Geschäftspartnern aufgehalten worden bin und obendrein einen Umweg aufgrund eines Unfalls nehmen musste, welcher mich geradewegs in einen nur schleppend vorankommenden Stau geführt hat, habe ich nicht einmal mehr die Zeit dazu gefunden, mich adäquat für dieses Treffen herzurichten. Sie müssen mir also keinesfalls auf so erzwungene Weise schmeicheln, Bianca.“„Sie tun ja gerade so, als würde es eine besondere Form von Begabung oder gar mentalen Aufwand meinerseits verlangen, Ihnen wahrheitsgetreue Komplimente machen.“
Mein Einwand lässt Frau Schröder einen Augenblick lang innehalten, ehe sie sich nach einem tiefen Atemzug verhalten räuspert.
„Wie dem auch sei“, sagt sie, wobei ihre grauen Augen meinen aufmerksamen Blick meiden und stattdessen zu dem imposanten Restaurantgebäude hinter mir empor wandern, „ich befürchte nur, dass die von mir getätigte Reservierung aufgrund dieser unerwartet verzögerten Ankunft meinerseits nunmehr verfallen sein wird…“
„…was aber keinesfalls bedeuten muss, dass wir aufgrund dessen einen weniger schönen Abend haben werden“, vollende ich den von Frau Schröder begonnenen Satz und ergreife mit einem galanten Lächeln die Hand der blonden Frau, als diese mir einen wenig überzeugten Blick zuwirft, „kommen Sie…“
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Sugar & Spice (Johanna & Bianca)
RomanceErfolgreich. Stolz. Und eiskalt. Mit ihrem akribischen Auge fürs Detail zählt Johanna Schröder zu den gefragtesten Architektinnen ihrer Branche. Gleichermaßen gefürchtet und geachtet von ihren Angestellten und Kollegen versteht Johanna es spielend...