# 33 - Kontaktaufnahme (Johanna)

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Er…er hat nicht gelogen…

Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und einer gewissen Form von Unbehagen betrachte
ich die sorgsam abgehefteten Rechnungsunterlagen, welche Arno mir, auf mein gestriges Verlangen hin, heute Morgen per Kurier direkt ins Büro zukommen lassen hat.

Arno…er…er hat nicht gelogen.

Es ist alles da.

Von der Rechnung des Autohauses über den entstandenen Lackschaden durch Arnos Malheur beim Ausparken bis hin zu einer schier lückenlosen Dokumentation des Schriftverkehrs zwischen Arno und dem Autohaus bezüglich seines Anpassungswunsches der Rechnung, damit diese von seiner Versicherung akzeptiert wird sowie der entsprechenden Erklärung seitens des Autohauses, weswegen dies nicht möglich sei.

Es besteht keinerlei Zweifel.

Arno hat die Wahrheit gesagt.

Von Anfang an hat er die Wahrheit gesagt.

Und…und wenn er die Wahrheit gesagt hat, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass…dass…

Mein Hals schnürt sich zusammen und das Gefühl eines dumpfen Schlages macht sich in meiner Magengegend breit, als ein zaghaftes Klopfen an meiner Bürotür ertönt.

„J-Ja…ja bitte?“

Ich zwinge meine Stimme zu einem festen Klang und hebe mein Kinn bewusst ein Stück in die Höhe, während sich die Tür zu meinem Büro langsam nach innen öffnet und der dunkelblonde Schopf meiner Assistentin zwischen dem geöffneten Spalt erscheint.

„Das wurde aber auch Zeit, Nicole“, ich rümpfe in geübter Manier die Nase und schlage meine langen Beine gekonnt übereinander, „hat Ingo vielleicht sein Büro an den Südpol verlegt oder weshalb haben Sie derart lange benötigt, um meinem Partner einen Besuch abzustatten?“

„Es…es lag weniger an der Entfernung zwischen Ihrem und dem Büro von Herrn Brandes, sondern...sondern vielmehr an dem Grund, wes-…weswegen ich sein Büro aufsuchen sollte“, erwidert meine Assistentin, deren unterlippenkauende Gestalt nunmehr vollständig in dem Spalt der halbgeöffneten Tür erscheint.

„Was soll das heißen?“, frage ich und begutachte mit einer hochgezogenen Augenbraue Nicoles leere Hände, deren Finger sich auf nervöse Weise immer wieder ineinander verschränken. „Sind Sie etwa nicht fündig geworden?!“

„Es…“, setzt Nicole an, die ihren Kopf über meinen herrschenden Ausruf leicht zwischen ihre Schultern gezogen hat, und schluckt einmal, „es liegt weniger daran, dass ich nicht fündig geworden bin, sondern...sondern vielmehr daran, dass Julian nach Ihrem Gespräch mit Herrn Brandes von ebendiesem  angewiesen worden ist, sämtliche Bewerbungsunterlagen von dieser
Frau Fährmann zu vernichten, da…da Herr Brandes nicht davon ausgegangen ist, dass Sie Ihre Meinung bezüglich Frau Fährmann noch einmal überdenken würden und…“

„Raus!“

Mit einer prompten Senkung ihres Kopfes greifen Nicoles zitternde Finger nach der Klinke und ziehen diese samt dazugehöriger Tür wieder hinter sich zu, wohingegen sich meine Hände im Schoß liegend mehr und mehr zu geballten Fäusten verformen.

Das darf doch alles nicht wahr sein...

Nur mit Mühe gelingt es mir sowohl meine wachsende Wut als auch dieses merkwürdig beengende Gefühl in meiner Magen- und Halsgegend im Zaum zu halten, während ich mich
zu meiner Handtasche unter meinem Schreibtisch hinabbeuge.

Im Grunde genommen kann ich Ingo die von ihm eingeschätzte Annahme bezüglich meiner Meinung nicht einmal übel nehmen.

Normalerweise würde ich nicht ein einziges Gedankenfragment an eine von mir abgelehnte Bewerberin verschwenden…und dessen ist sich Ingo natürlich bewusst.

Es war töricht von mir anzunehmen, dass er sich Biancas Bewerbungsunterlagen noch nicht entledigt hat…wirklich mehr als töricht…

Und das bedeutet wohl auch, dass mir leider doch keine andere Kontaktmöglichkeit vergönnt
ist…

Mit einem ergebenen Seufzer greife ich in das Innere meiner offen stehenden Handtasche und ziehe mein Handy daraus hervor.
Es bedarf nur weniger Fingerstriche, bis ich Biancas Kontakt aufgerufen habe und mein Daumen einem Damoklesschwert gleich über dem grünen Hörer schwebt.

Wer weiß…möglicherweise ist so ein klärender Anruf auch um einiges vorteilhafter als ein persönliches Gespräch von Angesicht zu Angesicht…

Ich seufze erneut, diesmal etwas tiefer, und spüre, wie meine eben noch so präsente Wut verblasst und sich stattdessen ein lang vergessen geglaubtes Gefühl zu meinem seltsamen Unbehagen gesellt.

Ein Gefühl von…Nervosität? Anspannung? Unruhe?

Grundgütiger…

Es wäre zumindest eine durchaus plausible Erklärung für mein Zögern und das nervenaufreibende Kribbeln in meinem Körper…auch wenn ich ein derartiges Gefühl zuletzt vor meinem Biologiereferat in der achten Klasse verspürt habe…aber sei es drum.

Ich räuspere mich einmal kräftig, um dem beengenden Gefühl in meinem Hals zumindest ein wenig Einhalt zu gebieten, und straffe meine Schultern, bevor ich auf den grünen Hörer drücke und mein Handy an mein Ohr führe…

„Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben. Bitte überprüfen Sie die von Ihnen gewählte Rufnummer auf ihre Richtigkeit oder…“

W-Was?

Ich warte nicht das Ende der monotonen Computerstimme ab, sondern beende den Anruf und wähle Biancas Kontakt erneut…mit demselben Ergebnis.

Wieder…und wieder…und wieder…

„Was soll dieser Unfug?!“, entfährt es mir schließlich nach dem fünften erfolglosen Versuch und drücke die lästige Ansage mit einem frustrierten Schnauben weg.

Das soll doch wohl ein schlechter Scherz sein!

Eine nicht vergebene Nummer…und dann zu allem Überfluss mir noch die Unrichtigkeit einer von mir eingespeicherten Nummer zu unterstellen…also wirklich!

Als ob ich für ein derart kindisches Spiel Zeit oder gar Nerven hätte!

Kopfschüttelnd verlasse ich meine Kontakte und bin nach ein paar weiteren Fingerstrichen auf der Website dieser sagenumwobenen Agentur gelandet, dessen weinroter Schriftzug „Sugar & Spice“ im Header mich entnervt die Augen verdrehen lässt, bevor ich weiter zu den Profilen klicke und zu scrollen beginne…

…bis sich meine Stirn in Falten legt, als ich am Ende der Profilseite angelangt bin.

Das…das kann doch nicht sein…

Wie in Trance scrolle ich wieder ganz nach oben und begutachte jedes einzelne Profil mit Argusaugen, bis ich schließlich erneut ganz unten bei dem letzten Profil angelangt bin.

Dann…dann habe ich mich doch nicht geirrt…

Biancas Profil ist von der Website der Agentur…verschwunden…

Sugar & Spice (Johanna & Bianca)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt