Ich wusste nicht mehr, was ich geträumt hatte, als ich die Augen aufschlug und mich ruckartig aufsetzte. Tor lag neben mir, er sah mich an, viel mehr konnte ich bei der Dunkelheit nicht erkennen.
„Hast du schlecht geträumt?", fragte er.
„Ich weiß nicht", flüsterte ich leise zurück.
Eine kleine Pause entstand, ich atmete einige Male tief durch.
„Wie alt war dein Bruder, Tor?", flüsterte ich.
„Als er verschwand oder wie alt er jetzt sein sollte?"
„Jetzt."
„Siebzehn."
„Genau wie Jannes."
„Die beiden waren beste Freunde. Bis Jose kam... Ab dann haben sich die beiden irgendwie auseinander gelebt. Also na klar, sie haben sich weiterhin getroffen und haben neue Sprüche ausprobiert und zusammen gelacht. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Jose war damals echt hübsch – damit will ich nicht sagen, dass sie es jetzt nicht mehr ist, aber sie war eine wirkliche Schönheit. So ein Mädchen, auf das alle Jungs im Umkreis von hundert Kilometern stehen. Und sie war nett und witzig und klug und richtig gut in der Schule. Doch seit Jannes verschwand wurde sie immer verbitterter. Ich hatte sie öfter irgendwo gesehen und mit jedem Mal, bei dem Jannes Tod weiter zurück lag, sah sie unglücklicher aus... Als sie heute vor mir stand – ich habe sie kaum wieder erkannt. Ihre Gesichtszüge hatten nichts mehr von dem verspielten, netten Mädchen, das ich damals kannte."
„War damals auch dein Bruder in sie verliebt?"
„Ich könnte jetzt sagen natürlich und es würde sogar stimmen. Aber ich will nicht, dass du ihm unterstellst, Jannes verraten zu haben. So was würde er nicht tun. Selbst nicht für Jose!"
„Pst, nicht so laut. Ich will ihn nicht wecken", ermahnte ich ihn und deutete auf Nick.
Er verdrehte die Augen. „Dein Prinz schläft wie ein Baby. Den kann gar nichts wecken."
„Sei nicht so zu ihm. Du würdest ihn auch mögen, wenn du ihn kennen würdest."
„Wie gut kennt ihr euch denn schon?", ich hörte die Verbitterung in seiner Stimme.
„Du bist so bescheuert, Hector! Versuch es doch einfach zu akzeptieren!"
„Und was ist, wenn ich das nicht kann?", er sagte die Worte so leise, dass ich sie beinahe nicht verstand.
Ich schwieg. Ja, was war dann? Mein bester Freund würde er vermutlich bleiben. Aber unsere Verbindung war ein für alle Mal unterbrochen.
Ich legte mich wieder hin und rollte mich zu einer Kugel. „Ich schlaf noch ein bisschen."
Doch ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich lag da und zählte meine Atemzüge, damit sie gleichmäßig wurden und keiner der Jungen merkte, dass ich wach war.
Ich hörte, wie Tor irgendwann Nick aufweckte und er ab dann die Wache übernahm. Als ob das etwas bringen würde – ich wachte sowieso auf, wenn sich eine Gefahr näherte.
Ich richtete mich blitzschnell auf, als ich Schritte hörte. Doch das konnte nicht sein, denn sonst hätte ich auch das bekannte Priwier-Ziehen gespürt. Da konnte niemand sein.
„Ist irgendwas?", frage Nick besorgt.
Ich schüttelte den Kopf. „Alles gut."
Und in genau diesem Augenblick hörte ich wieder Schritte. Sehr leise und vorsichtig, aber sie waren da.
Und wieder verschwand das Geräusch, bevor ich mir wirklich sicher sein konnte. Shit.
Es konnte doch nicht sein, dass ich mir das alles nur einbildete!
Ich murmelte einen Spruch, der mir ein Supergehör verschaffte. Ich hörte leisen Atem, aber das konnte auch der von Nick und Tor sein – vielleicht sogar mein eigener.
Nicht verrückt werden, Maggie, nicht verrückt werden. Es geht dir gut.
Genau in diesem Moment, als ich für den Bruchteil einer Sekunde die Augen geschlossen hatte und nicht auf meine Umgebung achtete, zerrte mich jemand von hinten auf die Füße, hielt mir den Mund zu und bog meinen Arm auf meinem Rücken so weit nach hinten, dass mir Tränen in die Augen schossen.
Tor und Nick waren aufgesprungen.
„Wenn ihr euch auch nur einen Schritt auf uns zu bewegt, breche ich ihr den Arm – oder das Genick, das muss ich mir noch überlegen. Ich würde es an eurer Stelle lassen!", zischte eine Stimme direkt neben meinem Ohr.
Eine weitere Person trat aus dem Dunkeln und nahm Tor und Nick an den Armen. Die beiden wehrten sich nicht.
Derjenige, der mich festhielt, schob mich vor sich her – eine gefühlte Ewigkeit wanderten wir unter Gewölben. Ich fragte mich, wie man sich hier zurechtfinden konnte, bis ich ein Muster erkannte. Immer nach einem Pfeiler änderten wir die Richtung: Einmal rechts, einmal links.
Wir kamen an einer Tür an, die genauso aussah wie die, durch die wir in den Keller gekommen waren. Aber wir mussten keine Treppen hinaufsteigen denn hinter der Tür war ein kleiner Raum, in dem sich der Eingang zu einem Fahrstuhl befand.
Der Junge ließ mich mit einer Hand los, um einen Zahlencode neben der Tür einzutippen. Und obwohl ich nur sah, in welche Richtung ungefähr sich seine Hand bewegte, erkannte ich, dass es die Zahlen 53985 waren – die Zahlen von Scolège.
Die Frage war nur – warum ausgerechnet diese?
„Passwort?" Es erklang die gleiche Stimme wie vor unserem Gemeinschaftsraum.
„Elyoma", antwortete der Junge.
Ich sah Nick mit großen Augen an. Das konnte doch kein Zufall sein!
Die Fahrstuhltür öffnete sich und der Junge schob mich hinter meinen beiden Freunden hinein.
Das Mädchen war die ganze Zeit hinter uns gegangen, erst jetzt konnte ich sie richtig erkennen. Schwarze, eng anliegende Sporthose, schwarz-graue Jacke, ebenso eng.
Glänzend schwarze Haare, eisblaue, kalte Augen, noch kindliche Gesichtszüge.
Das Gesicht aus meinen Träumen.
Und jetzt wusste ich auch, wer hinter mir stand. Wer drohte, mir den Arm zu brechen. Wie konnte ein so freundlicher und gutmütiger Mensch so hart werden? So erbahmungslos?
Tränen sammelten sich in meinen Augen. Was war aus meinem Bruder geworden?
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Schon scheiße sowas, oder? Stellt euch vor, das ist euer Bruder/ eure Schwester...
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SCOODJE (Abgeschlossen)
FantasíaAls die 14-jährige Maggie an der besten Schule Phatselgs angenommen wird, ist sie alles andere als glücklich. Viel lieber würde sie noch ein Jahr zuhause wohnen und ihr erstes Schuljahr auf dem Scoodje mit ihrem besten Freund beginnen. Auf dem Inter...