29. Kapitel - Vehöre und Verurteilungen

8 2 0
                                    

Wir blieben vor einer großen Flügeltür stehen. Davor standen zwei Männer in Uniformen. Sie klopften an und nachdem von drinnen ein undeutliches „Herein" zu hören war, öffneten sie die beiden Flügel für uns.

Matthyas sah anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Viel jünger, vielleicht gerade erst Anfang vierzig. Er hatte braune kurze Haare und einen Dreitagebart und alles in allem sah er aus wie ein netter Vater – wäre da nicht dieses überhebliche, arrogante Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, als er uns eintreten sah.

Ich begegnete seinen Augen mit dem kältesten Blick, den ich in diesem Moment zustande brachte.

„Mädchen, lass mich am Leben! Mit diesem Blick könntest du ja Hunderte töten!"

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. Es war mir egal, ob man mir verboten hatte, Matthyas in die Augen zu sehen. Am liebsten würde ich diesem Menschen so wehtun, wie er es mir getan hatte. Er hatte mir den wichtigsten Bestandteil meines Lebens genommen, meinen Fels in der Brandung, mein Sicherungsseil in den Bergen.

Ich hasste ihn.

„Schließt die Tür", wies er die beiden Diener an.

„Eine Frage, die mich brennend interessiert ist: Wie seid ihr hier rein gekommen? Wisst ihr, das Gebäude ist so gesichert, dass man nur durch den Haupteingang hereingelangen kann, wenn man nicht meiner Familie angehört. Und dieser wird strengstens überwacht."

Wir schwiegen.

Matthyas sah dreimal zwischen uns hin und her, dann seufzte er theatralisch.

„Gehe ich richtig in der Annahme, dass du", er zeigte auf Tor, „Hector Iason bist?"

Keine Reaktion ging von meinem besten Freund aus.

„Du warst bei Claméce dabei, wir haben dich schon längst in unsere Akte aufgenommen. Aber deine beiden Freunde kenne ich nicht."

Wieder richtete er seinen selbstgefälligen Blick auf uns.

Wir schwiegen.

Ich merkte, wie sich seine Selbstsicherheit langsam in Wut verwandelte. Seine ironische und erhabene Fassade begann zu bröckeln.

„Wisst ihr, ich mag es nicht, wenn man nicht auf meine Fragen antwortet."

Wir schwiegen.

„Wenn ihr mit mir sprecht, könnte ich eine angemessene Strafe für euch finden, aber wenn ihr nicht redet, kann ich nichts für euch tun."

Wir schwiegen.

„Brandon", er winkte einen Jungen, der die ganze Zeit am Rand gestanden hatte, zu sich heran und flüsterte ihm etwas zu. Der Junge nickte und verschwand durch einen Seiteneingang.

„In keinen fünf Minuten werden wir auch eure Identitäten haben." Er rieb sich tatendurstig die Hände. „Und dann wird's erst richtig lustig."

Ich sah Tor mit großen Augen an. Was meinte Matthyas damit?

„Wie ich gehört habe, kennt ihr euch schon lange", er zeigte auf mich und Tor. „Eure Kindheit muss sehr... erfüllend gewesen sein. Französische Revolution nachgestellt? Das Revolutionäre wurde euch schon mit in die Krippe gelegt, was? Wisst ihr, ihr gefallt mir. Vielleicht seid ihr etwas ruhig, aber im Großen und Ganzen glaub ich an das Gute in einem Menschen. Wisst ihr... ich war früher auch so, hab mich immer gegen die Großen gestellt und nie das gemacht, was ich sollte. Und jetzt... bin ich König. Bei euch soll das natürlich nicht gehen – dann wäre das ja nicht so gut für mich", er lachte über seinen selbstgefälligen Witz, „aber ihr könntet es zu etwas bringen in diesem Land. Ich könnte euch anstellen, als... Boten zum Beispiel, denn wie ich sehe, seid ihr sehr verschwiegen. Oder...", weiter kam er nicht, denn der Junge kam mit zwei Heftern zurück. Was drauf stand, konnte ich nicht erkennen.

Matthyas warf einen kurzen Blick hinein, dann sah er uns an. Das überhebliche Lächeln kehrte zurück.

„Aha, interessant. Vergen hat also noch nicht aufgegeben. Beides Scoodjeschüler und wenn mich nicht alles täuscht, warst du auch für nächstes Jahr angemeldet, richtig, Hector?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, führte er seinen Monolog weiter. Dazu schlug er eine der beiden Mappen auf.

„Nick Lionheart. Was machen deine sechs Schwestern wohl gerade? Sie machen sich doch sicher Sorgen, meinst du nicht auch? Vielleicht sollte ich sie auch her bestellen...?"

Ich warf Nick einen kurzen Seitenblick zu. Er war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

„Du bist also in der ersten Klasse... scheint, als hättest du dir ziemlich viel zugetraut. Und deine Schwester Treva in der zweiten... Ich dachte, ihr seit wie Pech und Schwefel. Wo ist sie denn in diesem Moment?"

Nick antwortete nicht. Er biss die Zähne zusammen und schloss die Augen.

„Den Namen Lionheart kenn ich irgendwo her... Kennst du einen Adam Lionheart?", fragte Matthyas. Er blickte in den Hefter, der auf seinem Schoß lag.

„Ah, sogar dein Vater. Kennst du die alten Geschichten? Wie wir damals zusammen auf den Scoodje waren, auf einem Zimmer, in einer Klasse, unzertrennbar? Und wie er mich nach Strick und Faden verarscht hat, dieses Arschloch? Dieser aufgeblasene Möchtegernrevolutionär! Er hat es doch nie zu etwas gebracht! Aber sieh mich an. Ich sitze jetzt hier vor seinem Sohn als Oberhaupt des Landes mit allen auch nur erdenklichen Rechten – und kann mich rächen."

Er blickte uns mit zusammengekniffenen Augen und einem wölfischen Grinsen an.

Ganz plötzlich, als sei ihm bewusst geworden, dass er die Höflichkeitsgrenze überschritten hatte, wurde sein Gesicht wieder zu seiner typischen arroganten Maske.

„Kommen wir zu dir, Mädchen. Maggie Lyene Isobel Veronique Canella. Geboren in Eckernförde, Deutschland, Aufnahme ans Scoodje-Internat kurz nach deiner Geburt, Hausunterricht bis zum ersten neunten dieses Jahres, ab dann Weiterbildung am allbekannten Scoodje-Internat. Du hast einen netten Lebenslauf vorzuweisen, Mädchen. In deinem Leben hat anscheinend immer alles so geklappt, wie du es wolltest. Sehen wir uns doch mal deine Familie an: Vater: Marc Canella, Mutter: Ally Tess Canella, geborene Silver, Bruder", er stockte kurz: „Johannes Canella."

Ich hörte, wie jemand hinter mir scharf die Luft einzog.

Plötzlich wurde Matthyas unruhig. Und unglaublich ungehalten: „Wenn ihr nicht auf der Stelle sagt, was ihr hier wollt, lasse ich euch hinrichten – und lade zu dem Event eure gesamten Familien ein."

Und wir schwiegen.

„Führt sie ab", wies Matthyas Jannes und Clove an. „Und zieht ihnen die guten Klamotten aus. Die Blutflecken gehen da doch nicht mehr raus!"

Offensichtlich wollte Sophias Stiefvater uns nur einschüchtern, doch niemand von uns lies sich unterkriegen. Wir stolzierten mit erhobenen Köpfen aus dem Verhörsaal.

Sobald die Tür geschlossen war, schubste mich Jannes gegen die Wand. Mein Kopf traf hart gegen die Wand. „Was fällt dir eingebildeter Göre ein, deine Mappe zu fälschen? Ich habe keine Schwester!"

Ich sah ihm fest in die Augen. „Und ich keinen Bruder mehr."

„Johannes, lass gut sein. Spätestens morgen lebt sie sowieso nicht mehr."

Ich bekam eine Gänsehaut bei der Gleichgültigkeit, die hier alle gegenüber dem Tod an den Tag legten. Aber die beiden fühlten vermutlich sowieso nichts mehr.

Sie besaßen keine Seele.


___________________

Ganz schön übertrieben von Matthyas, oder??

SCOODJE (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt