Guten Morgen, Dornröschen!

105 12 12
                                    

Meine Lieder sind schwer wie Blei. Nur mit größter Mühe schaffe ich es sie anzuheben. Gleißend helles Licht blendet mich und ich stöhne genervt.
,,Cara?"
Unter Schmerzen, wende ich mich ein Stück nach rechts. Ein Arzt, ganz in weiß, steht neben meinem Bett. Er hat ein Klemmbrett im Arm und ein Stethoskop über der Schulter.
,,Ja?" Meine Stimme ist rau, als hätte ich eine Ewigkeit nicht gesprochen.
,,Ich bin Dr. Howard. Wissen sie wo sie sind?"
Der Mann setzt ein freundliches Lächeln auf. Freundlich aber falsch.
,,Nein, weiß ich nicht." Mein Blick gleitet an meinen Körper herunter, zu einem dicken, weißen Verband. Ich wackel mit den Zehen.
,,Sie sind hier-"
,,Könnten sie ihr aufgesetztes Grinsen... wegwischen? Das macht mich aggressiv."
Diesmal ist sein Lächeln echt. Auftrag erfolgreich abgeschlossen!
,,Wissen sie was passiert ist?"
Ich grabe ein wenig in den tiefen meines Gehirns herum und schnaufe empört, als ich keine Erklärung dafür finde, warum ich in einem Krankenhaus aufgewacht bin.
,,Sie lagen zwei Wochen im Kooma, nachdem sie unter ein Pferd geraten sind."
,,Tut mir leid. Daran kann ich mich nicht erinnern." Ich fasse mir an die Stirn.
,,Ihr Bruder wartet vor der Tür. Soll ich ihn herein bitten?"
,,Ja. Und meine Eltern?"
Dr. Howard schüttelt den Kopf. Eine dünne, schwarze Strähne fällt ihm über die grünen Augen.
,,Nur ihr Bruder ist hier."
Ich nicke langsam und bedanke mich. Er verlässt den Raum.
Keine Minute später kommt mein Bruder herein. Seine Mine ist kalt und abweisend.
,,Geht es dir gut?", frage ich ihn.
Ein kurzer Moment der Überraschung huscht über sein Gesicht.
,,Ähm... Ja. Danke, der Nachfrage."
Ich lache herzlich und streiche mir ausnahmsweise mit der linken Hand meine blassroten Haare hinters Ohr, da in meiner rechten Armbeuge eine Nadel tief in meinem Fleisch steckt.
,,Wo sind Mom und Dad?"
Joshua funkelt mich an. ,,Soll das etwa witzig sein?"
,,Ich verstehe nicht ganz?"
Jetzt mustert er mich als wäre ich ein kleines, grünes Männchen vom Planeten Mars.
,,Du verarschst mich wirklich nicht, oder? Cara... Sie sind Tod."
Das trifft mich wie ein Schlag in den Magen. Ein sehr heftig Schlag. Ich ringe nach Atem.
,,Tod? Seit wann?"
,,Schon seid über zwei Jahren! Cara, was ist das letzte an das du dich erinnern kannst?"
Joshua streicht sich grüblerisch über seinen Dreitagebart.
,,Ich glaube... an das letzte an das ich mich erinnern kann, ist... dass ich mit Pat essen war. Wo ist er eigentlich?"
Seine Augen weiten sich. ,,Charisma... das ist über 5 Jahre her."
Ich schüttel wild den Kopf, sodass meine Haare wieder nach vorne fallen. ,,Nein! Das war gestern... oder eben vor zwei Wochen."
Ich erinnere mich noch genau an Patricks Schmunzeln als ich ihm von der Idee mit dem Rosentatoo erzählt habe und seine kleinen Sicheleien wegen meines neuen Jobs als Modeberaterin.
,,Ich hole lieber den Arzt."
Und schon ist mein Bruder zur Tür hinaus. Ungeduldig klopfe ich mit den Fingerkuppen den Bettrand ab, bis die Tür zu meinem Krankenzimmer erneut aufgerissen wird.
Dr. Howard leuchtet mit einer Taschenlampe in meine Augen und und hört mich mit dem Stethoskop ab.
,,Keine Angst. Vorübergehender Gedächtnisverlust, wahrscheinlich. Wir checken sie gleich mal durch", meint er und beginnt an der Nadel in meinem Arm herum zu hantieren.

Zwei Stunden später ist der Befund eindeutig. Wie Dr. Howard gesagt hat: Vorübergehender Gedächtnisverlust. Er hat mir erklärt, dass ich noch drei Tage zur Überwachung hier bleiben müsse, danach wäre es mir aber freigestellt zu gehen.
Ich seufze und lehne mich zurück.
Bevor Dr. Howard mich verlässt, bedankt sich Joshua nochmal bei ihm. Er war schon immer höflich... Das hat sich anscheinend nicht geändert.
Er setzt sich zu mir aufs Bett. In dem Moment, in dem er den Mund öffnet um etwas zu sagen, klingelt sein Handy.
,,Ja?... Ja, sie ist wach... Hm-mh... Klar." Er legt auf. Seine Mine ist unergründlich.
,,Dein Mann ist unterwegs", knurrt er.
Ich blinzel geschockt. ,,Ich bin verheiratet?"
,,Verlobt."
,,Du scheinst ihn nicht sehr zu mögen..."
Joshua grunzt nur, doch so leicht lasse ich mich nicht abwimmeln.
,,Wie ist er so?"
,,Reich." Er schaut weg.
,,Ich meine... vom Charakter her!"
Ich kann zwar sein Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme klingt bedauernswert: ,,Du must echt fürchterlich auf den Kopf gefallen sein."
,,Ich bin nicht auf den Kopf gefallen!", erinnere ich ihn bissig. ,,Sag mir, warum du ihn nicht magst!"
,,Meine Meinung hat dich nie interessiert." Er beobachtet weiter die gelbliche Wand.
Gelblich...
Irgendwas kratzt plötzlich an meinem Verstand: Ein Licht.
Gelbes Licht...
Ein schreckliches Gefühl die Antwort, auf eine unausgesprochene Frage, auf der Zunge zu haben und trotzdem nicht drauf zu kommen.
,,Dafür interessiert sie mich jetzt umso mehr! Du bist mein Bruder! Ich vertraue dir!"
Sein Kopf schießt herum. ,,Du vertraust mir?"
,,Verdammt, ja! Klärst du mich endlich auf!?", fauche ich zurück.
,,Sollte lieber dein Verlobter machen!" Mit diesen Worten stürmt er hinaus. Bevor die Tür zufallen kann, wird ein Fuß ins Zimmer geschoben.
,,Guten Morgen, DornRÖSCHEN!"
Der Mann ist ziemlich groß, hat dunkelbraunes Haar und trägt einen teuren Anzug.
Er wedelt mit einem Strauß Rosen und macht anschließend Anstalten mich zu küssen. Ich lege meine Handflächen auf seine Brust und schiebe ihn auf Armlänge.
Man ist der aufdringlich!, denke ich und verkneife mir die Augen zu verdrehen.
,,Und Sie heißen...?" Ich habe eine böse Vorahnung.
,,Du bist vielleicht lustig. Ich habe es wirklich eilig Rose."
Ich weiß nicht warum, doch ich kann diesen Spitznamen auf Anhieb nicht ausstehen.
,,Würden Sie es bitte unterlassen mich Rose zu nennen. Mein Name ist Cara."
,,Ca- Cara? Ich bins! Matt!"
Ich lege den Kopf schief um ihm zu zeigen, dass ich keine Ahnung habe, wer zum Teufel er ist.
,,Hören Sie mir jetzt gut zu: Ich habe vorübergehenden Gedächtnisverlust und erkenne Sie daher leider nicht."
,,Matthew Jones. Ich bin dein Ehemann."
Der zweite Schlag an diesem Tag. Nicht ganz so schlimm wie der erste, doch trotzdem noch heftig genug um dem Gefühl einiger Messerstiche gleich zu kommen.
Wie konnte ich nur so jemandem freiwillig das Jawort geben? Entweder wurde ich gezwungen, war betunken oder einfach nur verrückt nach seinem Geld. Ich fühle mich mehr als nur unwohl in seiner Nähe.
Zumindest erklärt sich jetzt Joshuas Verhalten.
,,Aus sicheren Quellen weiß ich, dass wir nur verlobt sind."
Matthew starrt mich an. Seine Kinnlade klappt herunter, doch er fängt sich schnell wieder. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.
,,Wie gesagt: Ich habe es eilig. Dir geht es ja gut hier."
,,Ist das Ihr... dein Ernst!? Ich habe meine Erinnerung verloren und du machst einen Abflug!?"
,,Vorübergehend verloren." Er zwinkert. ,,Aber irgendwie muss ich mir schließlich meine Brötchen verdienen. Hier ist dein Handy. Im Notfall kannst du mich anrufen. Ich kümmere mich morgen um dich, versprochen."
Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. Was für ein Arsch!
Ich schnappe mir das Handy und ziehe mir dann die Decke über den Kopf. Leider kann selbst sie das quälende Licht nicht abhalten.
Ich tippe auf dem Display herum. Ein Hund erscheint. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Ohne nachzudenken, fliegen meine Finger jedoch über die Tastatur und geben Filou als Passwort ein.
Faszinierend...
Ich scrolle zu meinen Kontakten. Synonyme, wie Schnuckelhasi, Schatzi und Knuffel, verwirren mich zusätzlich.
Ich presse meinen Daumen auf Joshua Rose und wundere mich, dass ich ihn nicht unter Bruder oder Joshy eingespeichert habe.
Nach dem zweiten Tuten nimmt er ab.
,,Cara? Was willst du?"
,,Ich will, dass du zurück kommst!", nörgel ich.
,,Ist dir in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht arbeiten muss?"
,,Doch! Aber ich habe sonst niemanden!", flehe ich weiter.
,,Was ist mit deinem Verlobten?"
Ich schweige, als ohne Vorwarnung die Tür aufgerissen wird. Heute scheint ein sehr geschäftiger Tag für sie zu sein.
,,Glaubst du ernsthaft ich lasse dich in diesem Zustand allein?", fragt Joshua und lehnt sich gegen den Rahmen.
,,Entschuldige mich bitte, aber hier ist gerade ein ziemlich forscher, junger Mann herein geplatzt", spreche ich in den Hörer.
,,Versohl dem Kerl richtig den Hintern!"
,,Mach ich!", verspreche ich und lege mein Handy beiseite. ,,Lass uns ein Spiel spielen."
,,Von mir aus." Joshua nimmt seinen Platz auf meinem Bett wieder ein.
,,Ich stelle eine Frage und du beantwortest sie... Ohne Ausnahmen!"
,,Das ist doch kein Spiel!", beschwert er sich.
,,Frage eins-"
,,Fang bloß nicht mit Matt an. Das kannst du ihn selber fragen."
Ich stöhne, gebe allerdings nach.
,,Arbeite ich noch immer als Modeberaterin?"
Er lacht. ,,Du hast keinen Job."
,,Will mich niemand haben oder sind meine Ansprüche zu hoch?"
,,Ein bisschen was von beidem." Er zwinkert mir heiter zu. ,,Du bist ein halbes Jahr, als Modeberaterin, hin und her gependelt und hast irgendwann deinen eigenen kleinen Laden eröffnet. Er lief ganz gut."
Das Bild, eines kleinen, grün-rosa gestrichenen Häuschens, rückt in meinen Kopf. Im Schaufenster hängt die neuste Sommerkollektion und an der Kasse schwatzt eine junge Dame, in einem kurzen, sonnengelben Kleid, mit einer älteren Kundin.
Ein fröhliches Glöckchen und ein buntes Schild mit der Aufschrift Charisma Roses Boutique schmücken die Eingangstür und es riecht himmlich nach Blumen und Pancakes.
,,Warum habe ich ihn dann aufgegeben?"
Mein Bruder verzieht leicht das Gesicht. ,,Matt trat in dein Leben. Er hat dir eingeredet, du bräuchtest nicht zu arbeiten. Er würde das Geld verdienen. So kam eins zum anderen."
,,Oh." Mehr bringe ich nicht zustande.
,,Und wie sind... unsere Eltern gestorben?", wechsle ich das Thema.
Er verzieht erneut das Gesicht. Diesmal vor Trauer.
,,Autounfall... Die Polizei meint es wäre nur geschehen, weil Dad angetrunken gewesen war, aber du kennst ihn! Selbst sturzbesoffen könnte er einen zwanzig Meter langen Laster - rückwärts - um vierzig Ecken herum und in eine schmale Einfahrt fahren! Ohne irgendwo anzustoßen!"
,,Was denkst du denn, was wirklich passiert ist?"
Er zuckt die Schultern. ,,An jenem Abend war es nass und nebelig. Dad hatte die Sehstärke eines Maulwurfs."
Ich nicke. Das klingt in meinem Ohren schon glaubwürdiger.
,,Wo sind sie beerdigt?"
Ich nehme mir fest vor bald ihr Grab zu besuchen.
,,Auf dem alten Friedhof mitten im Wald. Dort ist es ruhig und man ist ungestört... Du warst nicht da. Bei der Beerdigung, meine ich."
Ich warte zitternd, aber geduldig, auf eine Erklärung.
,,Du warst mit deinem Zukünftigen Häuser besichtigen. Es hat dich kaum gejuckt, dass sie Tod sind."
Der Schmerz in seiner Stimme überwältigt mich. Ich streichle seinen Rücken.
,,Es tut mir so unendlich leid. Ich war nicht ich selbst. Wie ich nur so dumm sein konnte..." Ich schüttle ungläubig den Kopf. ,,Wirklich! Es tut mir so leid, dass ich dich in solch einer Situation im Stich gelassen habe und dass ich nicht für dich da war. Kannst du mir jemals verzeihen?"
,,Natürlich. Du warst die letzten Jahre einfach nicht die Schwester mit der ich aufgewachsen bin."
,,Tut mir leid." Ich nehme ihn in den Arm und drücke ihn an mich. Die Tränen laufen mir unkontrolliert über die Wangen und ich könnte schwören auch bei ihm einige glitzern zu sehen.
,,Bleibst du bei mir?", frage ich mit flehendem Unterton.
,,Ich hab eh nicht viel zu tun", rutscht es Joshua heraus.
,,Das musst du mir erklären."
Eine kurze Pause entsteht. Ich lasse ihn nicht los.
,,Wurde gefeuert. Zum dritten Mal."
,,Warum?"
,,Ich halte mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser... verdiene kaum Geld. Da kam mir das Klauen gerade recht."
,,Wusste ich das!?"
Er nickt.
Ich habe ihn sich selbst überlassen!, schreit etwas in mir. Mein Mann ist steinreich und meinen Bruder lasse ich verhungern!
Wir schweigen; halten uns nur fest. Irgendwann höre ich ihn leise schnarchen. Ich bette seinen Kopf auf meine Oberschenkel und spiele mit seinen kurzen, dunkelroten Haaren.

Our Second ChanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt