Verlockendes Angebot

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Wir quatschen und essen durcheinander. Jeder erfreut sich bester Laune. Da wir sechs Personen sind, gibt es weder Gesprächspausen noch bedrücktes Schweigen.
Niemand ist so griesgrämig und hält uns davon ab mit halbvollem Mund zu essen oder die Ellenbogen auf der Tischplatte abzustützen. Jeder ist lustig drauf - was wohl daran liegen könnte, dass diejenigen die Cocacola bestellt haben, anschließend doch noch nach Bier oder Wein verlangt haben.
,,Kann mir einer von euch sagen, was 'Dinner' bedeuten soll?"
Ich ziehe die Pläne, die ich heute morgen ausgedruckt habe, aus meiner Hosentasche und breite einen davon auf dem Tisch aus. Er ist ziemlich zerknittert, allerdings immer noch gut lesbar.

Donnerstag:
1. 10.00 - 11.00 Uhr - Mani- und Pediküre
2. 11.00 - 12.00 Uhr - Friseur
3. 12.00 - 12.30 Uhr - Massage
4. 17.00 Uhr - Dinner

,,Donnerstags gehst du immer mit Kate essen und reißt einen neuen Freund für sie auf", meldet Jade sich glucksend zu Wort.
Da ich nicht blind bin, bemerke ich die skeptischen Blicke der anderen, die unverwandt auf meinem Zettel liegen. Selbst ich beäuge ihn kritisch.
Massage, Mani- und Pediküre? Und das jeden Donnerstag?
Entweder war ich verdammt verwöhnt oder ich hatte das Geld, um es aus dem Fenster zu werfen.
Ich lehne mich über Joshuas Oberschenkel, um an den Kuli aus Theresas Handtasche zu gelangen - welche neben ihr auf der Bank liegt und den Platz einer ganzen Person einnimmt. Der Kuli fällt mir förmlich zwischen die Finger.
Ich fahre die Schreibspitze aus, streiche den Plan sorgfältig durch und drehe ihn herum, sodass mir eine leere Rückseite entgegen sticht.
!!!FREIZEIT!!!, kritzel ich, von der oberen linken Ecke zur unteren rechten.
,,Mal schauen... Vielleicht gehe ich doch zum Friseur...", überlege ich laut und begegne versehentlich Patricks Blick.
Weder ich, noch er weichen aus und so starre ich ihm einfach nur in seine dunkelblauen Augen.
,,Wie der Nachthimmel, nur ohne Sterne."
Viel zu spät bemerke ich, dass ich das gerade laut ausgesprochen habe. Ich schlage mir geschockt die Hände vor den Mund. Patrick blinzelt irritiert.
,,Wie bitte?", fragt er.
,,Gar nichts", meine ich und spüre wie mir die Röte ins Gesicht schießt. Ich schaue weg.
,,Doch was." Patrick packt mich an der Schulter, damit ich mich ihm wieder zuwende. ,,Was ist wie der Nachthimmel bloß ohne Sterne?"
Inzwischen hat jeder am Tisch sein Gespräch unterbrochen, um uns zu belauschen. Unangenehme Stille legt sich über uns.
,,Deine Augen", gestehe ich schließlich. Was bringt es jetzt noch, um den heißen Brei herumzureden?
,,Danke. Deine erinnern mich an einen Opal, den ich in Kindheitsjahren als Glücksbringer hatte."
,,Was ist aus ihm geworden? Aus dem Opal?"
Die Welt um mich herum verschwimmt zu einer einheitlichen, grauen Fläche. Plötzlich sehe ich nur noch Patrick.
Seine tiefschwarzen Pupillen jagen hin und her, als wollen sie sich selbst das kleinste Detail in meinem Gesicht einprägen. Eine blonde, gelockte Strähne ist ihm über die Stirn gefallen und er schiebt sie mit einer stark aussehenden Hand wieder an ihren Platz. Die beiden Lachfalten neben seiner perfekten Nase zucken kurz, als er seine blassen Lippen zu einem sanften Lächeln verzieht.
Ich kann mich einfach nicht von ihm lösen. Seine Worte haben mich aus meiner verkorksten Alltagswelt gerissen. In eine Welt aus hellblauen, stillen Seen, türkisfarbenen Opalen und mit einem fast schwarzen Nachhimmel.
Patrick bewegt die Lippen und ich weiß instinktiv, dass er spricht, doch ich höre ihn wie fünfzig Meter tief unter Wasser.
Mit aller Kraft und verbliebenen Vernunft, schaffe ich es wieder aufzutauchen. Ich schnappe nach Luft und richte meine Aufmerksamkeit beschämt auf meine Oberschenkel und meine darauf liegenden, verkrampften Händen. Als Antwort knurre ich ein knappes ,,Ok".
Alle Augen am Tisch sind auf mich gerichtet und ich weiß, dass ich schon jetzt rot wie ein Krebs bin.
,,Joshy? Hattest du mir nicht mal etwas zeigen wollen? Kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und du bei Matt angerufen hast?", will ich das Thema wechseln, doch bis mein Bruder sich halbwegs gefangen hat, scheint eine Ewigkeit zu vergehen.
,,Ach so! Ich wollte dir eigentlich das Kunstzentrum und das GAZ zeigen", lacht Joshua irgendwann endlich.
,,Wirklich? Das wars? Warum ist Matt dann so ausgeflippt?", denke ich laut und spähe kurz und hoffentlich unauffällig zu Patrick hinüber.
Er ist völlig in Gedanken versunken und starrt mit seinem antrainierten Pokerface den verschnörkelten Schriftzug 'forGIVEness - nimm niemals zu viel und gib niemals zu wenig' über dem Bartresen an.
Nur die winzige, wirklich winzige Träne im linken Augenwinkel, verrät mir, dass er nicht an seine Hochzeit oder seinen Geburtstag zurück denkt. Die Träne ist so winzig, dass jeder der Patrick nicht kennt, denken könnte, ihm wäre ein kleines Staubkorn auf die Hornhaut geraten.
,,Er ist ausgeflippt?"
,,Nicht ganz. Er war plötzlich irgendwie nervös und besorgt... als wollte er nicht, dass ich dich begleite. Als habe er eine schlimme Vorahnung...", grübel ich Joshua vor.
,,Ahh." Er nickt. ,,Also ich glaube, dass es nicht um die Orte, die ich dir zeigen wollte, im Ganzen geht, sondern... um die Leute die du dort triffst."
,,Geht das auch etwas präziser?"
Ich wende mich ihm ganz zu, lege nachdenklich den Kopf schief und versuche einen sinnvollen Zusammenhang zu erkennen, aber mein Hirn will ohne Unterbrechung an Patrick denken.
,,Ich glaube, dass Matt glaubt, dass Back und deine Tante nicht den gewünschten Einfluss auf dich ausüben. Außerdem hat Pat - vor gar nicht allzu langer Zeit - auch dort gearbeitet."
Egal wohin ich heute Abend schaue, wo ich hinhöre oder mit wem ich meine Überlegungen teile, er ist überall. Patrick hier, Pat da, alter, treuer Freund dort.
In jedem noch so engen Spalt scheint er auf mich zu warten, um mich ohne Vorwarnung aufzuscheuchen. Wie ein albernes, nervöses Huhn.
,,Ich muss kurz an die frische Luft", bringe ich gepresst hervor, nachdem jemand einige Cocktails bestellt hat und die allgemeine lustige Stimmung erneut hergestellt wurde... auch ohne meine Hilfe.
Keinen scheint es zu interessieren, als ich mich an Patrick vorbei quetsche, der Barfrau freundlich zunicke und nach draußen verschwinde. Nur Joshua ist noch nüchtern genug, um mir besorgt hinterher zuschauen. Doch er ist ein Kerl... Vielleicht versteht er meine Sorgen und Probleme, aber mit ihm darüber zu reden, das wäre mir unangenehm und ein Stück weit demütigend. Schließlich habe ich es, mit all meinen mir zur Verfügung stehenden Kräften, geschafft mein altes Image aufzupolieren und aus mir eine neue, bessere und sozialere Charisma Rose zu machen.
Eine, die sich für andere einsetzt.
Eine, die nicht nur an sich und ihre bevorstehende Massage denkt.
Eine, die man in sein Herz aufnehmen kann.
,,Nur leider, lieber Unfall, hast du mich einige Jahre zu spät erwischt!"
Ich schleudere einen faustgroßen Stein mit der Fußspitze an einen Gartenpfosten. Er prallt in einem rechten Winkel ab, landet auf der Straße und wird von einem vorbeifahrendem Auto zu mir zurück katapultiert. Er streift mich am Schienbein.
,,Ich habe das wichtigste in meinem Leben verloren!!!" kreische ich, dass mir das Herz bis zum Halse pocht. So unnatürlich schnell, als hätte ich mit einem Alligator um mein Leben gerungen.
Einige Leute, die auf der anderen Straßenseite entlang flanieren, werfen mir empörte Blicke zu, doch ich ignoriere sie geflissen, während ich mich vor Kälte schüttel.
,,Hier", meint plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich zucke zusammen und wirbel herum.
Patrick hält mir meine, im Restaurant vergessene, Jacke hin. Ich nehme sie ohne zu Zögern aus seiner Hand und wickel mich ein.
,,Ich habe dich gar nicht gehört", nuschel ich in das weiche Futter.
,,Ich weiß." Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er nicht weiß ob er lachen oder unbeteiligt dreinschauen soll.
,,Oh. Du hast es mitbekommen... Alles?" Ich beobachte den faustgroßen Stein zu meinen Füßen.
,,Nur 'Leider, lieber Unfall, hast du mich einige Jahre zu spät getroffen' und dass du das wichtigste in deinem Leben verloren hast." Patrick schenkt mir ein unsicheres Lächeln, dass seine beiden Lachfältchen nur so hüpfen.
Fürs Erste hat er seine überhebliche, stolze 'Alleskönner'-Fassade abgelegt und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.
,,Also alles", stelle ich fest, hoffend, dass er nicht weiß von wem im zweiten Teil die Rede war.
,,Ich bin dir ja auch sofort gefolgt."
,,Warum eigentlich?"
Als hätte ich mit meiner Frage einen Lichtschalter umgelegt, huscht wieder dieser sichere, arrogante Ausdruck in Patricks Augen.
,,Du hast deine Jacke vergessen", informiert er mich mit hoch erhobenem Kinn.
Ich stocher nicht weiter nach, denn er strafft die Schultern und mustert mich, als wäre ich eine ihm untergeordnete Gattung. Der Stein ist im gleichen Moment wieder interessant geworden.
Ich drehe Patrick den Rücken zu und kicke ihn ein zweites mal gegen den Pfosten. Diesmal verfehle ich mein Ziel und der Stein rollt einen kleinen mit Gras bewachsenen Abhang hinunter und bleibt schlussendlich reglos und mitten im Garten liegen.
Patrick beugt sich hinunter, sammelt ein paar Steinchen auf und wirft erst den ersten, dann den zweiten, den dritten und noch den vierten. Der Erste reißt einen braunen, größeren Stein in die Luft und auf die Straße. Der Zweite lässt ihn auf den Bürgersteig hüpfen, während der Dritte und der Vierte dafür sorgen, dass der Braune auch ja am alten Steinbrunnen ankommt.
Patrick sieht mich an, als wollte er sagen: Sieh dir das an! Cool, oder?
Ich wage es nicht den Mund aufzumachen und bewege mich einfach Richtung Eingangstür.
,,Was ich eigentlich fragen wollte: Hast du Lust mich mal zu besuchen? Mich und Kyla?"
Nicht wegen dem Angebot, sondern bei Kylas Namen, rollen sich mir die Zehennägel auf. Ich wollte Patrick sofort ein klares, lautes 'Nein' an die Stirn werfen, da halte ich perplex Inne.
Damals kannte mich Kyla als kleinere, mollige und tollpatschige Streberin ohne Freunde. Sie kannte mich als ein Mädchen, das immer die falschen Wörter in der falschen Situation gebrauchte. Als ein Mädchen, das niemals einen guten Typen abbekommt.
Doch man siehe mich jetzt an!
Ungewollt bin ich schlank und groß - jedoch nicht zu groß - geworden. Tollpatschig bin ich noch immer, obwohl ich diese Eigenschaft lieber als süß-tollpatschig deklarieren würde. Ich habe einen reichen Ehemann und arbeite ehrenamtlich. Mein Wissen beschränkt sich, weder auf das Einmaleins, noch auf das suchten meines Smartphones. Ich habe Grund- sowie weiterführende Kenntnisse in der Physik, der Kunst und der Modeberatung.
Ich könnte Kyla zeigen, dass all die Lügen und Behauptungen über meine missratenene Zukunft, die sie damals aufstellte, nur ihrer Eifersucht entsprangen. Dass ich wahrlich eine Traumfrau bin und jeder sich glücklich schätzen könnte mich zu haben.
Na gut. Ich gebe es zu.
Das hört sich vielleicht etwas selbstverliebt an, aber ich möchte Kyla nur zeigen, dass ich - entgegen all ihrer Vorstellungen - eine Granate geworden bin.
Zumindest eine halbe Granate.
Ich nicke also. ,,Gerne komme ich euch besuchen. Gehen wir wieder rein? Mir ist kalt."
So lassen wir den Abend ausklingen. Betrunken, verschmust und stetig am Kichern.
Zwei Taxis fahren uns zu unserem jeweiligen Zuhause und laden uns dort ab wie verfaultes Obst. Da Joshua sich nicht mal mehr auf den Beinen halten kann, beschließe ich, dass er diese Nacht in meinem Haus verbringen sollte... In Matts Haus.
Mit dem linken Arm stütze ich meinen sturzbesoffenen Bruder, mit der rechten Hand krame ich nach meinem Schlüssel. In dem Moment in dem ich einloche, übergiebt sich Joshua in einen Blumentopf. Ich lasse ihn los und er stolpert kopfüber in seine eigene Kotze.
Ich seufze; raufe mir die Haare. Ich schiebe die Tür sperrangelweit auf und zerre meinen - inzwischen bewusstlosen - Bruder in die Wärme. Schaufend und ächzend lege ich ihn auf dem Wohnzimmersofa ab, decke ihn zu und verschließe die Haustür. Anschließend wische ich ihm das Erbrochene aus dem Gesicht und ziehe ihm das Oberteil aus, um es ohne umschweife in die Waschmaschine zu befördern.
Bevor ich mich ebenfalls schlafen lege, steige ich unter die heiße Dusche, flechte mir meine wilde Mähne zu zwei Zöpfen und kippe zwei Tassen Kamillentee hinunter.
Hundemüde schlurfe ich durch das große Haus, auf der Suche nach einer weiteren dicken Decke, finde allerdings nur den von Motten zerfressenen Lumpen. Da ich eh gerade auf dem Dachboden bin, werfe ich mich auf die braune Couch. Kurz bevor ich wegdämmere, sitzt plötzlich ein winselnder Filou direkt vor meiner Nase.
,,Du lieber Himmel! Dann komm von mir aus hoch!"
Als hätte er mich verstanden, hoppelt er zu mir auf die Couch, kuschelt sich in meine Arme und beginnt wohlig zu schnarchen.

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