Der Plan

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Montag:
1: 9.00 - 10.30 Uhr - Kunstkurs
2: 11.00 - 13.00 Uhr - Ehrenamtliche Arbeit
3: 15.00 - 16.00 Uhr - Dog-Parcours

Punkt 1: Yey!
Punkt 2: Gut. Vielleicht bin ich doch nicht so verwöhnt gewesen, wie ich zuerst dachte.
Punkt 3: Wie bitte!?
,,Befolge den Plan!"
Bevor ich weitere Fragen zu meinem heutigen Ablaufsplan stellen kann, hat Matt mich schon aus dem Auto geschmissen und ist weggefahren.
Tolle letzte Worte!, denke ich.
Da Joshua mir kurzfristig abgesagt hat, muss ich stattdessen meinen Tag leben, wie ich ihn sonst auch leben würde.
Ich wende mich also dem hohen, breiten Altbau zu. In dem kleinen, grünen Park direkt davor, blühen die letzten Blumen und ein schmaler Bach schlängelt sich an einigen Buchen vorbei. Künstler aller Art versuchen diese zurechtgestutzte Natur einzufangen und auf Leinwand oder Papier zu bannen.
Ich seufze glücklich und schreite auf die schwere Glastür zu. Um an mein Ziel zu gelangen, muss ich jedoch zig Steinstufen nach oben klettern. Schon auf halben Weg, schnaufe ich wie ein Walross.
Als ich kurz nach oben schaue, bemerke ich, wie mich eine junge Frau mit wallendem, blondem Haar, rosigen Bäckchen und langen, ungeschminkten Wimpern neugierig mustert.
Ich lächle sie unsicher an und sie stiert zurück.
Suchend laufe ich in dem Gebäude hin und her, prüfe Ausweisschilder und befrage mir entgegenkommende Leute.
Ein älterer Herr, mit silbernen Strähnen und winzigen Fältchen um Augen und Mundwinkel, der sich als mein Kunstprofessor vorstellt, führt mich schließlich zu meinem Raum. Damit ich ihn morgen alleine finden kann, mache ich mir auf meinen ausgedruckten Ablaufsplan einige Notizen.
Als ich aufblicke werde ich von all meinen Mittstreitern - 8 an der Zahl - angestarrt.
Genervt und mit dementsprechender Mine, nehme ich einer Ahnung nach am Fenster Platz. Die anderen setzten sich in sicherem Abstand zu mir.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche meinem Professor zuzuhören.
,,...womit wir die vorbereitenden Arbeiten abschließen und zur eigentlichen Arbeit, mit Ölfarbe und Leinwand, übergehen würden."
Er macht einladende Gesten und beginnt bemalte DIN-A3-Blätter auszuteilen. Auf meinem steht rechts oben in der Ecke mit Edding CARA geschrieben, dann kommen einige Proben mit verschiedenen Ölkreiden, Ölfarben, Pinseln und Schabern und schließlich eine Bleistiftskizze und eine professionelle Ausarbeitung einer wunderschönen, in tiefen Schnee versunken Landschaft, die irgendetwas in meinem Kopf klingeln lässt. Während meine Mittsteiter eifrig anfangen die Leinwand zu bepinseln, erkläre ich meinem Professor was vorgefallen ist und warum ich lieber noch einmal die vorbereitenden Arbeiten abschließen würde.
Nachdem ich mich nun an vielen unterschiedlichen Öltönen und den dazugehörigen Pinseln ausprobiert habe, fällt mir auf, dass zu meiner Linken, nahe der Tür, die junge Frau mit den geröteten Wangen malt und mir immer wieder undeutliche Blicke zuwirft.
Von meinem Platz aus kann ich ihre Augenfarbe erahnen; ein sattes kastanienbraun.
Sie ist schlank, aber nicht magersüchtig.
Sie ist mollig, aber nicht übergewichtig.
Sie hat nicht viel, aber auch nicht wenig Busen.
Generell scheint ihr Körper eine perfekte Kombination aus gleichmäßigen Rundungen und scharfen Kanten zu haben. Ihre Proportionen stimmen aufs Pfund genau. Sie sieht trotz der No-Name Klamotten und der billigen Bernsteinkette unfassbar gut aus.
Ich linse an ihr vorbei. Bis jetzt ist ihre Leinwand nur eine einheitliche, blaue Fläche.
Ich zeichne mit Bleistift weiter und versuche das, vor Wochen entstandene, Bild zu übernehmen. Es gelingt mir irritierenderweise ziemlich gut, deshalb wende ich mich zu Ende der eineinhalb Stunden dem vorrangehendem Ölgemälde zu.
Ich nehme einen Umweg beim abgeben meiner Kunstsachen, um einen zweiten Blick auf die Leinwand der Blondine zu riskieren. Sie hat die obere Hälfte in ein helles, fast weißes und die untere Hälfte in ein dunkles, fast schwarzes blau verwandelt. Dazwischen befindet sich ein grüner Landstrich mit sanft ansteigenden, grauen Hügeln.
,,Das ist wirklich schön. Soll das ein See werden?"
Die junge Frau zuckt zusammen; sie wollte gerade zusammen packen.
,,Ja."
,,Man kann es sehr gut erkennen. Es steckt so viel Leben im Wasser. So viele kleine Details. Er wirkt unheimlich. Der Himmel hingegen ist so einheitlich und gleichfarbig, wie an einem warmen, wolkenlosen Sommertag."
Sie macht große Augen und schaut an mir hinunter, bis zu meinen Füßen und wieder hinauf, bis zu meiner Stirn. Ihren Gesichtsausdruck habe ich schon einmal gesehen. Bei Joshua, als ich ihn nach unseren Eltern fragte.
,,Entschuldigung. Kennen wir uns? Ich hatte einen Unfall und nun vorübergehenden Gedächtnisverlust."
Langsam klärt sich ihre steife, verwirrte Mine und sie öffnet schüchtern den Mund um etwas zu sagen.
,,Mein Name ist Theresa. Du kannst mich nicht leiden."
Okay, nun verstehe ich einiges.
,,Das bedeutet nichts. Selbst meinen Bruder habe ich anscheinend gehasst, aber weder daran, noch an dich kann ich mich erinnern. Bekomme ich eine zweite Chance oder habe ich einen guten Grund dich nicht zu mögen?" Ich blinzel unschuldig und Theresa kichert leise.
,,Ich glaube du warst eifersüchtig auf meine künstlerischen Fähigkeiten."
,,Ich bin eifersüchtig auf deine künstlichen Fähigkeiten! Dein Bild ist jetzt schon Millionen wert!"
Ein freundliches Lächeln kämpft sich an meinen straffen Gesichtszügen vorbei.
Theresa sammelt ihre Malutensilien ein und bringt schließlich ihr Gemälde in den Abstellraum. Nachdem ich mein Blattpapier meinem Professor ausgehändigt habe, warte ich auf sie.
Theresa wickelt sich in einen dichten Mantel und auch ich knöpfe lieber meine Jacke zu. Es ist früher Herbst und der Wind hat aufgefrischt. Draußen schneidet er mir tief ins Fleisch und lässt mich, von innen heraus, frieren.
,,Was hast du jetzt vor?"
Ich krame meinen Ablaufsplan aus der hinteren Hosentasche und zitiere Theresa den zweiten Punkt auf meiner Liste. Sie nickt.
,,Und du?"
,,Eigentlich müsste ich jetzt arbeiten, aber nahe meinem Büro ist ein Wasserschaden aufgetreten."
,,Ach, ja? Als was arbeitest du denn?"
,,Designerin für Einrichtungsgegenstände." Stolz reckt sie das Kinn.
,,Nimmst du mich mal mit, wenn der Wasserschaden repariert ist?", frage ich neugierig und sie nickt begeistert.
,,Klar doch. Und du? Was machst du?"
,,Man hat mir erzählt ich hätte mal einen kleinen Laden gehabt, ihn aber aus unbekannten Gründen aufgegeben. Derzeit bin ich wohl arbeitslos."
,,Wie hieß der Laden?"
,,Charisma Roses Boutique", mutmaße ich.
,,Ahhh CRB. Du hast ja jetzt eine halbe Stunde. Soll ich dir zeigen wo der Laden ist?"
,,Ja, bitte."
Sie führt mich nur wenige Straße weiter. Ich bin erstaunt, dass sich meine ehemalige Boutique so nah an meiner Kunstschule befindet.
Das letzte Haus ist das kleinste und liegt etwas abseits der anderen. Die linke Seite ist bis zur Mitte der Tür grün und die rechte Seite blassrosa gestrichen. Es hat nur ein Stockwerk, eine Tür und zwei breite Panoramafenster, die als Schaufenster dienen.
Der Laden sieht genauso aus wie er mir vor wenigen Tagen in Erinnerung gekommen ist.
Innen ist es dunkel. Der Tresen steht an der gleichen Stelle, vergessene Kleidung liegt auf einem alten, grün-weiß gestreiften Sessel und Folien und Planen bedecken die Holzdielen.
An der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift: Zu vermieten/verkaufen. Und darunter die zugehörige Telefonnummer. Ich notiere sie mir mit einem Kuli auf meinen Unterarm, bis mir einfällt, dass ich sie auch einfach in meinem Handy einspeichern kann.
Ich schaue auf die Uhr. 10.46 Uhr.
,,Weißt du, wo das Zentrum für gemeinnützige Arbeit liegt?"
Theresa lacht munter und vergräbt ihre Hände in ihren Armbeugen.
,,Direkt hinter dem Kunstzentrum."
,,Oh. Also den ganzen Weg wieder zurück?" Dann würde ich mir wenigstens die Strecke besser merken können.
,,Hm-mh."
Genau eine Viertelstunde später, setzt Theresa mich am Zentrum für gemeinnützige Arbeit ab und macht sich anschließend auf die Suche nach einem wohl bekannten, französischen Caffè.
Ich stoße einen tiefen Atemzug warmer Luft aus, der sofort eine kleine, weiße Wolke bildet und meine gefrorenen Finger wärmt.
Ich muss wieder ein paar Stufen nach oben klettern, um mich endlich in der Hitze des langen Flurs zu sonnen.
Die erste Tür links führt zu einem gigantischem Speisesaal. Dort säubern zwei ältere Damen gerade einen Tisch.
,,Hallo?"
,,Rosy!", quitscht die eine fröhlich, während die andere nicht mal den Kopf hebt.
,,Tante Pam!" Ich starre sie an. Meine Tante ist wirklich die letzte die ich hier erwartet hätte. Nicht, dass sie nur an sich denkt oder gemein wäre oder so. Nein, ganz im Gegenteil! Aber wohnt sie nicht in Australien?
,,Alles okay, Liebes?" Sie mustert mich besorgt und greift nach meinen Händen. Falten haben sich tief in ihr Gesicht gegraben, doch ansonsten sieht sie für ihr Alter ziemlich gut aus.
Sie hat ihre inzwischen platinblonden Haare zu einem lockeren Dutt zusammengefasst, ihre Wangen mit ein wenig rosa Rusch geschminkt und ihre beigefarbene Schürze kunstvoll nach oben gesteckt.
,,Geht so. Ich... Ich habe einen kleinen Unfall gehabt und jetzt vorübergehenden Gedächtnisverlust. Es ist nicht so schlimm wie es sich anhört. Ich würde nur gerne wissen was du hier machst. Du wohnst doch in Sydney?"
,,Ach Liebes, Liebes, Liebes." Tante Pam schüttelt langsam den Kopf. ,,Weißt du das deine Eltern umgekommen sind?"
Ich schlucke den Klos in meinem Hals herunter und nicke gequält; schließlich habe ich sie nicht einmal, sondern gleich zweimal verloren. Ich bin verwundert, dass meine Beine nicht unter mir nachgeben.
,,Ungefähr ein halbes Jahr später bin ich hierher gezogen... um euch beizustehen. Dir und deinem Bruder."
,,Danke." Ich nehme sie in den Arm, was sie stark zu überraschen scheint. ,,Wie kann ich dir helfen?"
,,Die Speiseräume und der gelbe Salon müssen hergerichtet werden. Nächste Woche findet hier eine Spendengala statt."
,,Mach ich", meine ich enthusiastisch. ,,Ähm... und wo finde ich den Salon?"
,,Letzte Tür am Ende des Flurs. Gelbe Tür." Meine Tante zwinkert mir verschwörerisch zu.
Ich schlurfe also den langen Gang mit dem Marmorboden entlang, bis zur sonnengelben Tür. Sie steht weit offen. Ein junger Mann, mit pechschwarzen Haaren, breiten Schultern und mächtigen Muskeln, steht auf einer Leiter, hat mir den Rücken zugekehrt und versucht vergeblich ein langes Stoffbanner aufzuhängen.
Einige Minuten schaue ich ihm grinsend dabei zu, bis das Banner zum bestimmt hundertsten Mal herunter rutscht. Ich schiebe einen Hocker vor, stelle mich darauf und halte das Banner so hoch nur ich kann. Was recht nötig ist, da der Mann fast drei Köpfe größer ist als ich und dann noch auf einer doppelt so hohen Leiter steht. Er lugt über seine Schulter, erkennt mich und macht sie schließlich mit Hammer und Nagel an eine schnelle, gewalttätige Lösung. In meinem Hirn fängt es plötzlich an zu rattern.
Den Mann kenne ich doch!
Ich lernte ihn schon vor über 5 Jahren kennen!
Nur woher???
Ich strenge alle meine grauen Zellen an und kaue an der Innenseite meiner Wange herum.
Ich glaube ihn schon oft mit Patrick zusammen gesehen zu haben. Wahrscheinlich war er ein Freund von ihm.
Im gleichen Moment in dem ich Blut schmecke, fällt mir sein Name wieder ein. Back Bailey.
Und jetzt da ich seinen Namen wieder auf der Zunge habe, weiß ich auch, dass er Patricks bester Freund war... oder ist?
Ungewollt gleitet mir der Soff aus den Fingern, schlittert über probeweise aufgehängte Gardinen und reißt natürlich auch die andere, gerade erst angehämmerte, Seite des Banners mit sich.
,,Cara! Meine Güte! Kannst du nicht mal ein fünf Gramm schweres Banner oben halten!?"
Back krakselt die Leiter herunter und tritt den 'fünf Gramm schweren' Stofffetzen mit Füßen.
,,Back Bailey?", versichere ich mich.
,,Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen!" Back lacht mich aus.
Mit jedem Wort meiner faszinierenden Leidensgeschichte, wird er jedoch stiller. Zum Schluss steht sein Mund sperrangelweit offen und seine Augäpfel drohen ihm aus dem Schädel zu kullern.
,,Und du verarschst mich auch nicht?" Er zieht prüfend eine Augenbraue in die Höhe.
,,Warum sollte ich das tun?"
,,Als Rache", sagt er, als wäre ich ein kleines Kind, dass einfach nicht begreifen will, dass eins und eins zwei ergibt.
,,Wofür?"
Back kratzt sich nervös im Nacken.
,,Egal. Ähmm... Tja."
Bis das Banner endlich vernünftig hängt, die Ziertische geschmückt, der Boden gekehrt und die Stühle frisch bezogen sind, haben wir die zwei Stunden gewaltig überzogen.
Back begleitet mich zum Ausgang. Ich spreche gerne mit ihm. Er labert ununterbrochen unwichtiges Zeug, was drei Annehmlichkeiten zur Folge hat.
Erstens, spricht er keine mir bedeutetenden oder kürzlich geschehenen Dinge an, von denen ich nichts wissen will oder keine Ahnung habe.
Zweitens, muss ich dann nicht so viel reden.
Und drittens, kann ich lachen. Ohne Scheu oder Scham und so viel ich will.
Er ist einfach unkompliziert. Er besitzt noch das Hirn eines Teenagers.
Auf der Treppe vor dem Zentrum für ehrenamtliche Arbeit hockt Theresa. Als sie mich sieht streckt und erhebt sie sich.
,,Hey. Ich wollte dir nur ausrichten, dass das Hundetraining heute ausfällt."
,,Danke. Das ist nett von dir. Back, Theresa. Theresa, Back.", stelle ich die beiden einander vor.
Doch Back ist plötzlich viel zu sehr mit seiner Uhr beschäftigt, die ihm klipp und klar sagt, dass er sich zu beeilen hat.
,,Wir sehn uns!", ruft er noch, dann ist er verschwunden.

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