,,Wie lang hast du vor hier zu wohnen?", fragt Joshua besorgt.
Einerseits scheint er glücklich zu sein, dass er seine Tage nicht mehr allein verbringen muss. Anderseits ist die Wohnung winzig. Als wäre sie für einen Zwerg gemacht. Joshua hat kaum Möbel, Klamotten oder irgendeine Art von Dekoration und trotzdem kann ich mich in seinen vier Wänden kaum bewegen. Die Wohnung besteht aus lediglich einem Zimmer, das mit einer Ausziehwand in zwei Räumlichkeiten unterteilt wurde und einem Bad mit einem Klo, Waschbecken und einer kleinen - in dieser Wohnung fast schon ein Luxus - Badewanne mit breitem Duschkopf.
Nur eine Heizung wärmt die Räumlichkeiten und als ich sie das letzte mal angefasst habe, war sie eiskalt.
Ausgestattet hat mein Bruder die Zimmer mit einem schmalen Bett, einem Sofa, einem niedrigen Esstisch, einem Schrank für einzelne Bücher und Kleidungsstücke, zwei klapprigen Holzstühlen und einer Anrichte, die wohl oder übel zum Kochen dient. Für mich ist sie allerdings das eindeutige Zeichen dafür, dass Joshuas Hauptnahrungsmittel Fastfood ist. Sie ist verhältnismäßig sauber, jedoch zugestellt mit Zeug das niemand braucht.
Ich setze mich auf den freien Holzstuhl und mache mich wie ein hungriges Raubtier über eine Schale Müsli her. Erst nachdem ich den letzten Rest Milch ausgeschlürft habe, antworte ich.
,,Nicht lange. Ich weiß, dass es hier zu dritt etwas voll ist, deshalb habe ich eben die Frau angerufen der mein alter Laden gehört. Sie war ganz aufgedreht, als ich ihr erzählte, dass ich ihn wieder mieten wolle und hat gesagt sie würde gleich mit mir den Vertrag aufsetzen."
,,Du hast die Hundertjährige an einem Sonntag angerufen?" Joshua füllt seine Schüssel mit einer zweiten Ladung Müsli und beobachtet mich über die Verpackung hinweg.
,,Das ist das einzige was dich interessiert? Ich habe meinen Laden zurück, will ihn wieder aufbauen und dort einziehen und du fragst nur, ob ich eine alte Dame an einem Sonntagmorgen aus dem Bett geholt habe?"
Joshua, der gerade seinen Löffel zum Mund führt, hält inne. Er starrt mich an, als wäre ich vor seinen Augen zu einer Kinder fressenden Furie mutiert.
,,Was ist?", fauche ich gereizt.
,,Du fällst in dein früheres Muster zurück", verurteilt er mich und schiebt endlich den Löffel mit Milch und Müsli in seinen Mund. Langsam und bedächtig beginnt er zu kauen.
Ich beschließe mich zusammenzureißen.
,,Du hast recht. Das war unhöflich und respektlos von mir. Ich werde mich später bei ihr entschuldigen."
Ich schaue betreten zu Boden, doch meinen Bruder scheint meine Einsicht nicht wirklich zu interessieren; er ist ganz in seine Mahlzeit vertieft.Joshua lädt mich vor dem grün-rosa gestrichenen Häuschen ab.
,,Hast du denn auch genug Geld zum einkaufen?", frage ich schuldbewusst.
,,Cara. Ich habe mehr als fünf Jahre ohne dich und dein Geld überlebt, da schaffe ich die nächsten Wochen auch noch." Er schenkt mir ein spöttisches Grinsen und tritt das Gaspedal durch.
Ich seuftze und wende mich dem hübschen Altbau zu, vor dem eine Frau steht die mindestens 100 Jahre alt ist. Ihr Haar ist weiß, dünn und splissig, ihre Finger knochig und sehnig und die tiefen Gruben von Falten wirken wie in den Schädel gebrannt. Auch wenn ihre Tränensäcke geschwollen sind, strahlen ihre grünen Augen, Ruhe, Liebe und Geduld aus.
,,Guten Tag, Frau Greenwood. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie an einem Sonntag störe."
,,Ach, das macht doch nichts, schließlich bin ich nicht aus Zucker! Aber Kindchen, nenn mich bitte Amber." Die Stimme von Amber Greenwood ist rau und zittrig. Die Stimme einer sehr alten Dame eben.
Ich schüttle ihre Hand und stelle fest, dass sie für ihr Alter einen ziemlich festen Griff hat.
Amber zückt einen Schlüssel und steckt ihn in aller Seelenruhe ins Schlüsselloch der halb grünen und halb rosanen Tür.
Nachdem Amber sie unter fürchterlichem knarren, quitschen und ächzen aufgestoßen hat, sucht sie an der Wand zu ihrer linken einen Lichtschalter. Zwei der fünf großen Lampen mit beigen Lampenschirmen, die prächtig von der Decke baumeln, funktionieren.
Sie flackern kurz, aber sie funktionieren.
Amber zeigt mir den Hinterraum, in dessen Türrahmen braune Perlenketten hängen, um vom Rest des Ladens abzuschirmen, da keine Tür in den Angeln hängt. Der Hinterraum ist bestimmt doppelt so groß wie die Wohnung meines Bruders.
Anschließend helfe ich Amber in den staubigen, breiten Sessel, der direkt zwischen Tresen und Schaufenster steht.
Sie drückt mir mit einem gütigen Schmunzeln einige verblichene Blätter in die Hand. Ich lese mir alles sorgfältig durch.
,,Ich glaube Sie haben da ein Komma falsch gesetzt." Ich zeige mit dem Finger auf den Mietpreis pro Monat, der ganz unten auf dem letzten Blattpapier steht, doch Amber schüttelt nur den Kopf und drückt sanft meinen Arm.
,,Nein, Kindchen."
,,Aber das ist doch Abzocke!"
,,Ach, Kindchen. Der Preis ist angemessen."
,,Nein ist er nicht! Bei dem Preis verdienen Sie doch überhaupt nichts!"
,,Ach, Kindchen. Ich bin schon alt. Ich brauche das Geld nicht mehr. Mein Leben neigt sich dem Ende zu. Das Haus ist eine Bürde."
,,Das dürfen Sie nicht sagen!" Nun bin ich es, die ihren Arm sanft drückt. Amber tätschelt meine Finger.
,,Ach, Kindchen. Ist es nicht besser der Wahrheit ins Auge zu blicken, als mit einer Lüge zu leben? Ich habe mich damit abgefunden und ich bin glücklich damit. Bald bin ich da oben..." Sie deutet an dieverbliebenen schmutzige Decke und ich bin mir sicher das sie vom Himmel spricht. ,,...und dann sehe ich meinen lieben Mann wieder." Ein kleine Träne rollt über ihre Wange und ich kritzel schnell und unordentlich meine Unterschrift auf den schwarzen Strich.
Amber lächelt.
,,Du hast dich verändert", sagt sie plötzlich und ich spüre wie mir die Röte in die Wangen schießt.
,,War ich etwa auch gemein zu Ihnen?" Geschockt mustere ich das von Falten durchzogene Gesicht der Frau.
,,Nein, nein, Kindchen. Würdest du bitte 'du' zu mir sagen? Sonst käme ich mir unhöflich vor."
Ich nicke. ,,Okay."
,,Du warst recht gemein und unhöflich, aber nicht zu mir. Ein Stück weit selbstverliebt warst du in meiner Gegenwart. Sag mir: Was ist passiert?"
,,Ich wurde von einem Pferd auf die Hörner genommen..." Ich beginne unsicher auf meiner Unterlippe herumzukauen.
,,Aha. Gibst du ihm die Schuld?" Amber legt den Kopf schief, woraufhin ein scheußliches Knacken ertönt, das sie allerdings nicht weiter stört.
,,Nein, ganz und gar nicht. Ich war Schuld. Ich habe den Strick geschleudert... Und jetzt habe ich kurzzeitigen Gedächtnisverlust."
,,Aha, aha. Eine zweite Chance also." Sie legt ihren Kopf auf die andere Seite.
Ich mache den Mund auf um ihr zu widersprechen, doch dann überlege ich es mir anders.
,,Nutze sie, Kindchen."
,,Werde ich", flüstere ich und begleite Amber nach Hause.
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Our Second Chance
Novela JuvenilRoman: Charisma und Patrick haben in ihrem gesamten Leben nur einen einzigen wirklich schweren Fehler gemacht. Sie haben beide für den anderen entschieden. Und sie haben diese Entscheidung nicht im Vorteil für sich getroffen. Sie haben nur an den an...