Kyla

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Über vier Stunden Autofahrt.
Über vier Stunden.
Meine Beine kribbeln, meine Hände spielen ohne Pause mit dem Anschnalgurt und mein Rücken ist steif. Patrick wirft mir ab und an einen amüsierten Blick zu, doch wir unterhalten uns kaum. Er scheint in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein und ich möchte ihn nicht herausreißen. Stattdessen beobachte ich das viele grün, das beinahe betörend an mir vorbei rast. Nur weil ich zu gleich hundemüde, schlecht gelaunt und noch immer wütend auf mich selbst war, habe ich Patrick das Steuer überlassen. Mir ist schon nach dem ersten Kilometer speiübel geworden, aber mit dem halb offenem Fenster und den Tempolimits wegen den ganzen Baustellen, ist die Fahrt tatsächlich erträglich.
,,Falmouth", zitiere ich ein kleines Schild und ziehe fragend eine Augenbraue hoch, wie ich es bei den letzten sieben Ortschaften schon getan habe. Doch anstatt eines Kopfschüttelns ernte ich dieses mal eine Art ärmliches nicken.
Patrick biegt rechts ab. Links von uns zieht sich die Grenze zu Falmouth durchs Land, während sich zur anderen Seite hin das azurblaue, klare Meer und die steilen Klippen erstrecken. Der Wind peitscht alles, was nicht niet- und nagelfest ist, durch die Gegend und entlockt allem, was niet- und nagelfest ist, die grauenvollsten Geräusche. Patrick hat schon längst das Autofenster hochgefahren und steuert nun einen festen, breiten Trampelpfad an, der sich durch Fels und Stein schlängelt, kaum Vegetation beherbergt und kein Ende zu haben scheint.
In dem Augenblick, in dem ich anfange daran zu zweifeln, ob hier oben wirklich noch irgendwo ein Haus zu finden ist, türmt sich das alte Gemäuer vor uns auf. Das erste Wort, das sich ungewollt in mein Hirn schlägt, lautet einsam. Das zweite verlassen. Und das dritte Oben.
Ein recht kleines Anwesen, ganz allein, mitten auf den Klippen.
Wer den computeranimierten Spielfilm 'Oben' kennt, weiß wovon ich rede.
Während ich meine heruntergefallene Kinnlade wieder schließe, stellt Patrick den Wagen direkt auf dem Weg ab. Der Motor erstirbt sang- und klanglos.
Ich steige aus, werfe die Beifahrertür zu und atme mit geschlossenen Augen tief durch. Die Luft ist anders. Reiner, salziger, befreiender. Ausgezeichnet, um den Kopf und die Lungen freizukriegen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ist Salzwasser sogar gut für Haare und Haut.
Ich lasse meine angespannten Schultern sinken und hebe die schweren Lieder. Zögernd mache ich ein paar Schritte auf den Klippenrand zu.
Der erste Satz der mir in den Sinn kommt? So etwas wundervolles habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!
Und wieder öffnet sich mein Mund, ohne das ich es verhindern kann. Ich spüre regelrecht wie sich meine Pupillen weiten und mein Atem zu stocken beginnt.
Das Meer scheint kein Ende zu haben. Es sieht aus als würde es am Horizont über den Rand der Welt laufen. Kein Kontinent, kein Land in Sicht. Keine noch so kleine Insel. Wohin man nur blickt: azurblaues Wasser, das durch die Sonne teils silbern glitzert.
Zu meinen Füßen fällt es steil ab. Unter mir kann ich sehen wie Wellen gegen den standhaften Fels schlagen, sich auftürmen und Schaum entsteht. Immer und immer wieder klatscht das Meer gegen den grauen Stein und höhlt eine niedrige, gut verborgene Höhle Stück für Stück weiter aus.
Sei wie der Fluss, der eisern ins Meer fließt.
Der sich nicht abbringen läßt, egal wie schwer's ist.
Selbst den größten Stein fürchtet er nicht.
Auch wenn es Jahre dauert bis er ihn bricht.
Und wenn dein Wille schläft, dann weck ihn wieder.
Denn in jedem von uns steckt dieser Krieger.
Dessen Mut ist wie ein Schwert.
Doch die größte Waffe ist sein Herz,
summt Silbermond mir leise ins Ohr und wird dabei fast von dem lauten Wellengang übertönt.
Der raue Wind fährt mir mit aller Kraft durchs Haar und lockert mein -ohnehin nicht richtig sitzendes - Haargummi immer weiter, bis es sich schließlich verabschiedet und auf den kräftigen Böen über das Meer gleitet. Meine wilde Mähne ist jetzt nicht mehr zu halten. Sie weht in alle nur möglichen Himmelsrichtungen, verknotet und verfilzt sich mit jeder Sekunde schlimmer. Doch das ist mir egal. Ich fühle mich wie im Traum. Das hüpfende Wasser vor mir, der helle, rauschende Schaum unter mir. Silbermond sanft in meinem Ohr, der forsche Wind in meinem langen Haar. Die reine, befreiende Luft in meiner Nase, der salzige Geschmack nach Meer auf meiner Zunge.
In diesem Augenblick könnte ich schwören, dass ich gleich abhebe und zu fliegen beginne. Weg von Krankheit, Hass und Eifersucht. Hin zu Liebe, Freundschaft und Glück. Ich kann das dümmliche Lächeln, das sich auf mein Gesicht stiehlt, nicht aufhalten, genauso wenig wie den erstickten, jahrelang unterdrückten Schrei, der sich gewaltsam aus meiner Lunge befreit.
Erst da bemerke ich Patrick. Er steht keinen Meter von mir entfernt und sieht mich an, als wäre nicht der Ausblick das Besondere an diesem Ort, sondern ich. Seine blauen Augen, die nicht die winzigste Ähnlichkeit mit dem Meer zu meiner Linken haben, leuchten vor Liebe. Seine Arroganz und sein Stolz haben sich verflüchtigt; sind mit meinem Haargummi fortgetragen worden. Sein Grinsen gehört dem alten Patrick. Meinem Freund. Meinem Patrick.
Plötzlich steht er direkt vor mir. Ich weiß nicht ob ich oder ob er den Schritt gewagt hat, aber er steht vor mir. Auch mit seinen von der Sonne gold angestrahlten Locken spielt der Wind. Sie jagen hin und her, fallen ihm aber - ganz im Gegensatz zu mir - nicht über die Stirn. Seine Wangen sind leicht gerötet und seine beiden Lachfältchen sind verschwunden.
Patrick streckt seine Hand nach mir aus und streicht vorsichtig, als würde ich bei der kleinsten Berührung zerbrechen, über mein Gesicht. Er ist mir so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meiner kalten Haut spüren kann. Seine schmalen Lippen zittern und in dem Moment in dem sich mein Herz aus heiterem Himmel entschieden hat ihn küssen zu wollen, trägt mein Freund, der Wind, eine hohe Stimme an mein Ohr.
,,Patrick? Bist du das?", ruft Kyla über den kleinen Sturm hinweg.
Ich drehe meinen Kopf um 90 Grad.
Kyla hat sich in eine Strickjacke gewickelt und muss sie mit aller Kraft umklammern, damit sie nicht wegfliegt. Unerwarteterweise trägt sie ihr schönes, kastanienbraunes Haar kurz. Es geht ihr bis zum Kinn und scheint doch tatsächlich geglättet zu sein. Sie sieht aus, als träge sie eine riesige Kokosnuss, anstatt eines Kopfes, mit sich herum. Ihr durchtrainierter Körper, hat ein paar Pfunde zugelegt und gewachsen ist sie seid unserer letzten Begegnung auch nicht mehr. Und was, in drei Teufels Namen, ist das Ding auf ihrer Nase?
Die hübsche, kluge und beliebte Kyla trägt eine Brille!
Ich wollte als eine halbe Granate dastehen, doch neben ihr wirke ich wie eine ganze. Mindestens.
,,Hey Kay. Erkennst du Charisma noch?" Patrick kratzt sich nervös am Hinterkopf. Keine Sekunde später hat er seine überhebliche Miene wieder aufgesetzt, sich gerade aufgerichtet - als hätte er einen Stock verschluckt - und das stolze Funkeln seiner Augen und sein spöttisches Lächeln wieder freigesetzt.
,,Charisma Rose?" All meine Erwartungen bewahrheiten sich. ,,Du... siehst ganz verändert aus... Gut verändert."
Auch wenn Kyla mir früher noch so übel mitgespielt hat, steigt doch Mitleid in mir auf. Ich habe mich so gut entwickelt wie es mir möglich war, sie hingegen sieht aus, als wäre sie in der Pubertät stecken geblieben und hätte eine Hobby-Friseuse gebeten ihre Haare für umsonst zu stylen.
,,Danke", zische ich mit zusammen gepressten Zähnen.
,,Ich zeige dir das Gästezimmer und dann essen wir was", meint Patrick, hieft meinen winzigen, babyblauen Koffer aus dem Kofferraum und schleppt ihn zum Haus. Sein Auto schließt er nicht ab.
Mit der freien Hand öffnet er die neumodische, weiße Schallschutztür, die so gar nicht zu dem alten Schieferhaus passt. An das hübsche Haupthaus wurde zur Vergrößerung der Wohnfläche ein kleiner Backsteinanbau gesetzt.
Verträumt betrete ich einen schmalen Flur. Die Wand zu meiner Rechten ist mit quadratischen, sandsteinfarbenen Platten verlegt, die nicht breiter als meine Handflächen sind. An die andere wurde eine Tapete geklatscht. Darauf ist in silberblau der Eifelturm, der schiefe Turm von Pisa und der Big Ben abgebildet, darunter oder daneben steht - ebenfalls in silberblau - die dazugehörige Stadt.
Der Boden trägt dunklen Marmor und die beiden Treppen die ein Stockwerk höher führen sind aus Holz. Nichts passt zueinander. Alles wirkt irgendwie am falschen Platz.
Ich streife meine Schuhe aus und werfe die Jacke über einen schwarzen, verdrehten Kleiderständer, der einem jungen Baum ohne Blätter ähnelt.
Patrick führt mich eine Treppe hinauf und schiebt gleich die erste Tür auf. Das Zimmer ist genial.
Holzboden, selbstgezimmertes Bett, alter Kamin, großes Bücherregal, Energiesparlampen, grauer Teppich und ein Schreibtisch. Auch aus Holz. Ein Fenster, das der aufgehenden Sonne zugewandt ist.
,,Gefällt es dir?" Selbstbewusst schleudert Patrick meinen Koffer auf die Matratze und stemmt anschließend die Fäuste in die Seiten.
,,Es ist wunderschön", hauche ich ehrfürchtig. ,,Es sieht fast aus wie mein Kinderzimmer früher. Nur der kaputte Fernseher fehlt."
,,Warum war er kaputt?"
,,Unsere damalige Katze hat die Antenne gekillt. Wir haben uns jeden Tag aufs Neue vorgenommen eine andere zu kaufen, aber irgendwie... kam es nie dazu."
Patrick schenkt mir ein Lächeln. Naja. Eigentlich ist es ein abwertendes Zucken mit den Mundwinkeln. Wahrscheinlich hat er daher seine beiden Lachfalten.
,,Hunger?", fragt er gleichgültig.
Ich nicke nur, aus Angst, dass mir vor Wut die Stimme bricht.
Ich folge ihm also hinaus aus dem Gästezimmer, die Treppe wieder hinunter und die andere hinauf. Ich fühle mich wie in einem Labyrinth, das von einem Bekloppten ausgestattet wurde. Ein Skelett aus einem Biologielabor hängt neben einem menschengroßen Bilderrahmen, Pfauenferdern neben Fenstern, geschnitzte Holzfiguren in allen Ecken und Nischen und Perlen und Ranken, die von der Decke baumeln.
Das Esszimmer ist lichtdurchflutet, der Tisch groß und sperrig, die Decke blau und gelb gestreift.
Kyla hat ihre Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen gebunden, ihre Pickel abgepudert und sogar ihre Nägel rot lackiert. Ich weiß wie sie sich fühlt. Vernachlässigt, ungenügend und unwichtig. Und das nur, weil ich aufgetaucht bin.
Kyla ist nicht dumm. Sie weiß was fast auf den Klippen geschehen wäre. Sie weiß es und trotzdem flackert ab und zu etwas selbstsicheres und stolzes in ihrem Blick auf. Als könnte sie Patrick nicht verlieren. Als wäre es unmöglich. Als würde ansonsten die Welt untergehen. Aber auch nur ab und zu.
Sie stellt eine Pfanne und zwei Töpfe vor meiner Nase ab. In der Pfanne ist Fleisch einer Gans und in den Töpfen Klöße und Gemüse.
,,Haben wir schon Weihnachten?", lacht Patrick und hebt dabei tadelnd den Finger.
Seine Frau kriecht die Röte ins Gesicht. Sie schüttelt den Kopf und setzt sich zu uns.
,,Also Falmouth? Wie kommt man auf die Idee hierher und dann gleich noch auf eine Klippe zu ziehen?", frage ich, um die bevorstehende Pause zu verhindern.
Kyla will nach Patricks Hand greifen, doch dieser zieht sie unauffällig zurück.
,,Ein alter Freund, der hier ganz in der Nähe wohnt, hat mich angerufen und erzählt, dass sein Großcousin gestorben sei und das sein Haus nun freistehen würde. Da Kyla unbedingt ans Meer und ich unbedingt in die Berge wollte, war dieses Häuschen die beste Wahl." Patrick strahlt sein falsch-arrogantes Grinsen.
,,Und der Anbau? Ist der von euch?" Ich stochere in dem Gemüse herum und führe schließlich die Gabel zum Mund.
Patricks Ginsen erlischt und sein Blick wird irgendwie... starr. Als hätte ich ihn daran erinnert, dass die Welt morgen untergehen wird.
,,Ja!" Kyla nickt, plötzlich Feuer und Flamme. ,,Wir versuchen ein Kind zu bekommen!"
,,Ein Kind!?" Ich glaube mich verhört zu haben.
,,Ja! Ein kleines Baby!", ruft sie, ohne Rücksicht auf mein armes, gebrechliches Herz zu nehmen, das gerade von mindestens 10 50-Tonnen Lastern, plus Anhänger, überrollt wurde.
Ich greife mir an die Brust und ziehe ausreichend Sauerstoff in meine Lungen, um nicht gleich den Boden zu küssen.
,,Alles okay mit dir, Cara?" Patrick ist aufgestanden und legt sanft eine Hand auf meine Schulter.
,,Ja, ja. Mir ist nur plötzlich so schlecht", gestehe ich die halbe Wahrheit.
,,Wirklich? Aber Tom hat gesagt, dass das Gemüse ganz frisch ist! Dieser Betrüger! Der wird was zu hören bekommen!" Kyla schnappt sich den Topf mit dem Gemüse und entleert ihn kurzerhand in den Mülleimer.
Tut mir leid, entschuldige ich mich im Stillen.
Sowohl bei meiner Mahlzeit, als auch bei dem Mülleimer.
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