Ein offenes Buch

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Ich habe die Tür abgeschlossen, jede Schalusie heruntergelassen und die neuen Energiesparlampen angeschaltet. Während der CD-Player meines Bruders The time of my life von Bill Medley und Jennifer Warnes aus dem Film Dirty Dancing spielt, ramme ich das Klappmesser nach und nach in alle Katons und schlitze sie gnadenlos auf. Aus den meisten purzeln Klamotten oder Nähzeug. In einigen schmalen, länglichen Kisten stecken sogar in Luftpolsterfolie eingewickelte Kleidungsständer. Anscheinend habe ich den ganzen brauchbaren Inhalt meines Ladens ins Lager gebracht. Hübsche Deko, wie zwei indianische Traumfänger, ein alter, flauschiger Teppich, riesige Preisschilder mit einem Viereck aus grüner Tafel, ein dazu gehöriger Kreidestift mit einem kleinen Schwamm am anderen Ende, zwei winzige, unauffällige Bluetooth-Lautsprecherboxen zum Musik hören, die ich gleich in den Ecken positioniere und anknipse, ein breites, buntes Ziertuch für den Tresen, selbst gemalte, eingerahmte Bilder zum aufhängen, weiß-silberne Gardinen, eine niedrige und faszinierend leichte Komode, einen kleinen Holzhocker, eine antike Uhr und einen Pancakemaker!
Ich staune nicht schlecht über das ganze Zeug und meinen Geschmack was die rustikale, aber bunte Einrichtung betrifft.
Das letzte was ich öffne ist ein handgroßes Kästchen, mit verrosteten Schanieren und Schließmechanismus. Sie ist aus hellem Holz und mit einer grau-grünen Blumen Tapete beklebt, die bereits an einigen Stellen abblättert. Die Farbe ist von der Sonne fast völlig ausgeblichen und die Ecken stehen kurz vorm Zerbersten. Automatisch weiß ich, dass die Truhe ein Erbstück meiner Mutter ist und bin dadurch nur noch verwunderter. Warum habe ich sie so achtlos mit all den anderen Sachen eingelagert?
Die Frage beantwortet sich, als ich den quitschenden Deckel anhebe. Ein leises Schlaflied erklingt, spielt die ersten Takte und verstummt dann abrupt. Die Innenseite ist mit rotem Samt ausgepolstert, der hier und da eingerissen ist oder gar Löcher aufweist. In der Truhe befindet sich eine silberne, dünne Kette, die, wie mein Verstand mir sagt, ebenfalls meiner Mutter gehört. Sie ist in erstaunlich gutem Zustand. Verliebt lächelnd lasse ich das gute Stück durch meine Finger gleiten. Es ist leicht. In dem Moment erregen die anderen Dinge in dem Kästchen meine Aufmerksamkeit. Ein Anhänger, eine Zeichnung, ein schwarzweiß Bild und der Kopf einer roten Rose. Ich greife nach dem Bild und bin froh, dass ich nicht erneut anfangen kann zu weinen, da meine Tränen seid Patrick verschwunden ist, gar nicht erst aufgehört haben zu fließen. Das Bild zeigt meine Mutter in jungen Jahren, mit einem langen, roten, geflochtenen Zopf und einem strahlenden Lächeln. Sie sitzt im Bikini auf einem Steg und lässt ihre Füße im trüben Wasser eines Baggersees baumeln. Ihre Haut ist markellos und ihr Haar gepflegt. Im Hintergrund kann ich meinen Vater erahnen. Er dreht mit einem Freund im Wasser Bahnen. Seine roten Haare sind ganz feucht und sein Blick liegt unverwandt auf meiner Mutter. Er scheint die Kamera nicht wahrzunehmen, woran ich merke, dass er wirklich verliebt in sie war.
Ich schnappe mir eins meiner selbst gemalten Bilder, nehme den Rahmen ab und schiebe ihn über das abgegriffene Foto. Anschließend hänge ich ihn an die Wand über den Tresen.
,,Das würde dir sicher gefallen", jammere ich und schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Vor ungefähr einer Stunde habe ich mir einen dicken, kratzigen Pulli über die nackte Haut gezogen.
Alles in allem könnte man denken die Kiste wäre ein alleiniges Andenken an meine Mutter und es war dumm von mir gewesen sie einzulagern, doch es sind die letzten drei Gegenstände die mir den Atem rauben. Jedes hat etwas mit Patrick zu tun.
Die Rose hat er mir zu einem Valentinstag geschenkt, als wir beide allein und verbittert waren. Ich habe ihm zum Tausch eine weiß-gelbliche Rose gegeben.
Die Zeichnung sollte wohl mich darstellen, doch ähnelte eher einem Ailien von Planeten Mars. Zu einem Geburtstag habe ich Patrick eine Tuschezeichnung - an der ich mehrere Tage gesessen habe - geschenkt, worauf er mir, ungefähr einen Monat später, zu meinem Geburtstag, diese Bleistiftzeichnung aushändigte. Es war allerdings eher als Witz gemeint. Meine Ohren sind dreieckig und viel zu groß, meine Lippen und Augen bilden einen typischen Smily, eine Nase besitze ich nicht, mein Hals ist viel zu lang und meine Haare stehen in alle Richtungen ab. Ich muss grinsen. Weinen und grinsen. Erleichtert stelle ich fest, dass mein Tränenfluss langsam versiegt.
Der Anhänger lässt den Damm ein zweites Mal brechen. Ich beginne wieder zu heulen, als die Erinnerung in allen Einzelheiten auf mich einströmen.

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