Surreal

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Während ich die letzten Gläser abspüle, hat Patrick sich schon bei meiner Tante abgemeldet und ist gegangen. Auch mir bot Pam an, dass ich jetzt Feierabend machen könne, doch ich brauche die Ablenkung. Die habe ich schon immer gebraucht.
Stunde um Stunde werden es weniger Leute. Stunde um Stunde wird es ruhiger.
Ich helfe beim ein- und umräumen der Getränke. Bei der letzten Fuhre zweige ich mir einen der teuren Rotweine ab.
Ich verabschiede mich mit hängendem Kopf und werfe mir meinen Mantel über.
Draußen werde ich von Jade abgepasst.
,,Hey. Soll ich dich mitnehmen?", fragt sie und klopft auf das Dach ihres Autos.
Ich nicke nur und nehme mit Filou auf dem Beifahrersitz Platz.
Jade navigiert den Wagen vom Parkplatz und fährt auf die Hauptstraße auf.
Sie wirft mir andauernd prüfende Seitenblicke zu, als wolle sie sich versichern, dass ich noch da und nicht bereits aus dem Fenster gesprungen bin. Doch den Mund macht sie erst auf, als sie ihren Mustang vor meiner Boutique zum stehen bringt.
,,Wie geht es dir?"
Ich zucke die Schultern und steige aus. Doch natürlich lässt sich meine Freundin nicht so einfach abschütteln. Sie folgt mir stillschweigend durch die offene Tür.
,,Hey!", ruft Stanley gut gelaunt. ,,Wir sind gerade mit allen Arbeiten fertig geworden!"
Tatsächlich schafft es diese Nachricht mich aufzumuntern.
,,Ehrlich?"
,,Warum sollten wir lügen! Haha!"
Nun kommt auch George grinsend aus dem Hinterzimmer.
Er klatscht in die Hände und meint: ,,Augen zu!"
Sofort läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken. Ich will die Augen nicht zu machen. Auf gar keinen Fall!
Meine Handflächen sind bereits verschwitzt und meine Beine so weich wie Wackelpudding.
Ich möchte auf der Stelle widersprechen, aber meine innere Stimme hält mich davon ab. Sie sagt nichts, sie weigert sich nur meinem Misstrauen nachzugeben.
Also atme ich tief durch und senke langsam die Lieder. Ich vertraue George, der mich führt, Stanley, der aufpasst, dass sein Freund mich nicht gegen den Türrahmen laufen lässt und Jade, die völlig überwältigte Geräusche von sich gibt.
,,Wow!", zum Beispiel.
Ich beginne mich unter Georges Händen zu winden, woraufhin er mich ohne Zögern loslässt.
,,Darf ich die Augen jetzt wieder aufmachen?" Mehr neugierig, als nervös hüpfe ich auf und ab.
,,Ja! Verdammt nochmal! Mach endlich!", kommt Jade den Arbeitern zuvor.
Ich tue wie mir geheißen und... traue meinen eigenen Augen nicht.
Stanley und George haben meine Couch aus der Ecke und vom einzigen Fenster weggeholt. An ihrer statt führt nun eine einzelne längliche Stufe zu einer rustikal aussehenden Badewanne. Sie steht direkt neben dem Fenster, wessen Glas die beiden Männer mit einer milchigen Folie überzogen haben. Ich kann also raussehen, ohne dabei von Leuten, die gerade ihre Hunde aussführen, wie ein Tier im Zoo begafft zu werden.
Außerdem gibt es einen ebenfalls rustikal aussehenden Duschvorhang. Er ist in dunklen Moorfarben gehalten, doch vereinzelt ziehen sich goldene Strähnen den Vorhang hinauf.
Die neue Toilette steht etwas abseits, auf gleicher Höhe der Badewanne und ist auch von einem der Vorhänge umgeben. Gleich daneben, aber nicht mehr auf dem Podest, steht ein Trockner, anstatt einer Waschmaschine.
Wahrscheinlich haben sich die beiden gedacht, dass es einfacher ist seine Kleider zu waschen als sie zu trocknen. Diese Erkenntnis bringt mich zum Grinsen.
Der Dusche gegenüber haben sie das bereits vorhandene Waschbecken aufpoliert. Es ist nicht mehr schmutziggrau, sondern glänzt perlweiß. Den verrosteten Wasserhahn haben sie durch einen silbergrauen, mit goldenen Highlights ausgetauscht.
Noch dazu haben sie über dem kleinen Waschbecken einen gigantischen Spiegel aufgehängt, der den Raum fast doppelt so groß wirken lässt.
Überall sind helle, blaue Lichter, die all die rustikalen Stücke in unheimliches und doch gemütliches Licht tauchen. Wie mit klarem Nebel werden Badewanne, Toilette und Waschbecken umworben.
,,Statt echten Fliesen, haben wir welche zum Aufkleben benutzt. Keine Angst: Wasserabweisend. Du kannst also duschen so lange du willst. Die Decke haben wir gelassen wie sie ist, nur eine Spanndecke drunter gezogen", klärt Stanley mich auf. ,,Gefällt es dir?"
Ich bringe keinen Ton über die Lippen. Stanley und George haben mein Schlafzimmer mit der Couch, der Mikrowelle und dem Mini-Kühlschrank von dem so teuer aussehenden Bad abgetrennt, indem sie eine rote Linie über den Boden und die Wände gezogen haben. Die Spanndecke endet millimetergenau an eben dieser handbreiten Linie.
,,Cara?", fragt Jade vorsichtig.
,,Es... Es....", stotter ich und schließe Stanley, der mir am nächsten steht, fest in die Arme.
,,Wunderschön!", schluchze ich in sein mit roter Farbe bekleckertes Shirt. Dann löse ich mich von ihm und falle George um den Hals.
,,Ich wollte doch nur eine- eine- Dusche und eine- eine- Waschmaschine", klage ich.
George klopft mir beschwichtigend auf den Rücken.
,,Wie habt ihr das alles in nur zwei Tagen geschafft?" Ich trete einen Schritt zurück und bewundere mein neues Badezimmer. Für zwei Sekunden vergesse ich mal meine Eitelkeit, ziehe die Nase hoch und wische mir mit dem Handrücken über die Augen. Und wieder bin ich froh, mich nicht geschminkt zu haben.
,,Die Anschlüsse waren ja alle schon da, genauso wie das Waschbecken. Die Fliesen gingen recht schnell, fehlte nur noch die Badewanne. Eine passende zu finden nahm fast so viel Zeit in Anspruch wie die Spanndecke aufzuhängen. Für die haben wir nämlich am längsten gebraucht", erzählt George und stemmt stolz seine Hände in die Seiten.
Ich ziehe mein Handy aus meiner Hosentasche und wähle Ambers Nummer.
,,Was machst du da?" Jade beugt sich neugierig über mein Display.
,,Ich habe der Besitzerin des Ladens versprochen sie anzurufen, wenn das Bad fertig ist. Sie meinte, sie wolle es mit eigenen Augen sehen."
,,Aha."
Nach dem sechsten Tuten wird abgehoben. Doch die Stimme am am anderen Ende der Leitung ist nicht die von Amber Greenwood.
,,Hallo?", fragt die Stimme tränenerstickt und sofort breitet sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen aus.
,,Hallo... mein Name ist Charisma Rose", stelle ich mich vor und umklammere das Telefon fester.
,,Oh. Die Mieterin?"
,,Genau." Ich nicke obwohl ich weiß, dass die junge Frau das nicht sehen kann.
,,Ich heiße Lydia Greenwood. Ich bin Ambers Tochter."
,,Oh. Ähm... Ich möchte nicht unhöflich klingen, aber... könnten sie mir Amber geben?", taste ich mich sanft heran und drehe Jade unauffällig den Rücken zu.
Ich höre einen unterdrückten Schluchzer, dann spricht Lydia wieder. Ihr Stimme ist völlig heißer.
,,Tut mir leid. Das geht nicht."
Ich zögere. ,,Warum?"
,,Meine Mutter... Amber... ist heute Morgen verstorben."
Der Schmerz trifft mich mit voller Wucht.
,,Okay", sage ich und könnte mich ohrfeigen. Welche Tochter wollte in so einer Situation schon 'Okay' hören. ,,Also ich meine-"
,,Schon gut... Vielleicht möchten Sie noch wissen, dass meine Mutter den Laden an sie weitergegeben hat. Das Testament wurde noch nicht verlesen, aber ich habe erst gestern mit ihr darüber gesprochen." Plötzlich klingt sie gefasster. Lydia wirkt auf mich wie eine starke Frau und das nur vom Zuhören.
,,Ich danke Ihnen sehr...", flüstere ich und spüre wie die Tränen wieder fließen wollen.
,,Sie sind herzlich auf die Beerdigung eingeladen."
,,Danke. Vielen lieben Dank. Noch einen sch... Wiederhören."
Lydia stößt ein ersticktes Lachen aus. ,,Wiederhören."
Ich lege das Handy auf die Couch, setzte mich daneben und vergrabe mein aufgeqollenes Gesicht in meinen Handflächen.
Jade nimmt achtlos auf meinem Telefon Platz und streichelt meinen Rücken. Sie fragt nicht nach. Sie weiß, wie alt meine Vermieterin war und meine Tränen verraten ihr den Ausgang der Geschichte. Nur Stanley und George sehen ein wenig irritiert aus.
Irgendwie kommt mir alles auf einmal so surreal vor. Es ist keine drei Tage her, da habe ich noch mit Amber telefoniert. Ich habe sie gefragt, ob es okay sei, wenn ich in den Laden ein Bad einbauen lasse und sie hat fröhlich und putzmunter gelacht und ,,Ja, natürlich" geantwortet. Sie hat sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt und ich habe sie zu der Spendengala am Sonntag eingeladen. Sie hat noch einige Späße über das Wetter gemacht und ich war plötzlich so gut gelaunt, wie selten nach meinem Unfall. Noch immer habe ich Ambers Lachen im Ohr und unser Gespräch, als sie mir von ihrem Ehemann erzählte.
Eigentlich sollte ich mich für sie freuen. Sie sind endlich wieder vereint. Das war es doch was Amber unbedingt wollte. Und trotzdem vermisse ich die alte Frau. Man braucht sie nur wenige Stunden zu kennen und lernt sie sofort lieben. Mit ihrer sympathisch und offenen Art und ihrem stets freundlich Charakter. Es kommt mir vor, als kenne ich sie schon Jahre. Es ist so surreal.
Ich hebe den Kopf.
Dieses Bad ist so surreal.
Stanley und George sind so surreal.
Jade neben mir sitzen zu sehen ist so surreal. Schließlich habe ich sie vor meinem Unfall überhaupt nicht gemocht.
Kyla und ihre Beziehung zu meinem Ex-Verlobten ist so surreal.
Matthew... surreal.
Patrick... Er ist wohl - nach meinem Unfall - das Surrealste was mir passiert ist.
Champion ist so surreal.
Nathan und Samson sind so surreal.
Der Tod meiner Eltern durch einen Autounfall... surreal.
Jade und Javiers Cinderella Story... surreal.
Das ich noch Jungfrau bin? Bei all dem surrealen Zeug, ist das wohl noch die normalste Erkenntnis.
Cherry und Filou... surreal.
Gehirnfressende Zombies... als einziges wirklich real.
Ich seufze und Jade legt einen Arm um mich.
,,Wie wärs mit einem Glas Wein?", fragt sie, um mich aufzuheitern.
Ich hebe zwei Finger in die Luft.
,,Peace?"
,,Ich schätze sie meint zwei Gläser Wein, anstatt einem", lacht George.
Stanley greift meine Hand und macht aus den zwei Fingern kurzerhand fünf, was mich gezwungenermaßen zum Schmunzeln bringt.
Jade springt auf, holt die Flasche, die ich in ihrem Auto vergessen habe und ein paar Plastikbecher, die sie an mich, sich und die Arbeiter verteilt.
Meine Freundin übergibt George die teure Flasche, welcher den Korken mit einem langen Nagel heraushebelt und mir anschließend als Erste einschenkt.
Ich kippe den Inhalt meines Bechers in einem Zug hinunter und ernte von Stanley ein freudiges Johlen. Inzwischen ist mir so warm, dass ich mich meines Mantels und meines Pullovers entledige. Darunter trage ich ein dünnes schwarzes Top.
,,Du hast meine Frage noch gar nicht beantwortet", stellt Jade nach ihrem ersten Becher Wein fest. ,,Wie geht es dir?"
,,Keine Ahnung", stöhne ich nach dem zweiten Becher.
,,Hast er mit dir gesprochen?"
,,Wer?"
,,Patrick. Bist du schon so betrunken?"
Grinsend schwenke ich den Wein hin und her.
,,Cara", ermahnt mich meine Freundin, während Stanley und George sich den Bauch vor Lachen halten.
,,Ja...", gestehe ich und schenke mir den letzten Rest Wein ein. ,,Kyla hat es mit Matthew getrieben... Hat wer noch mehr?"
,,Kyla hat was?" Jades Pupillen weiten sich erschrocken. ,,Woher weißt du das?"
Inzwischen habe ich den Becher zum dritten mal geleert.
,,Verrate ich dir, wenn du noch eine Flasche organisierst", lalle ich. Ich war noch nie sehr alkoholresistent.
Jade seufzt, weiß allerdings, dass diskutieren diesmal überhaupt nichts bringen wird. Sie scheucht Stanley und George aus dem Laden und kommt keine zehn Sekunden später mit einem Sixpack zurück.
,,Wo hast du das denn so schnell aufgetrieben?" In Hochachtung schnappe ich mir das erste Bier.
,,Sagen wir, du bist nicht die einzige mit Problemen", meint meine Freundin, umklammert eine Flasche und stößt sie schließlich gegen meine. ,,Prost!"
,,Prost!"
Jade tut es George nach, indem sie den Deckel mit einem Nagel hochhebelt. Mit einem lauten Plopp springt dieser in die Höhe. Ich hingegen nutze eine Ecke meiner Mikrowelle als Flaschenöffner.
,,Heißt das, du hast immer einen Sixpack in deinem Wagen?"
,,Einen? Von wegen! Was glaubst du warum ein Mustang so langsam fährt!", klärt Jade mich auf und ext die Hälfte des gelblichen Inhalts hinunter.
,,Ist es wegen Javier?" Allmählich lüftet sich der Schleier um meine Gedanken und ich kippe schnell etwas Bier nach.
Meine Freundin lässt sich tiefer in die Couch sinken und zieht sich eine dünne Decke über die Beine.
,,Wenn eine Frau trinkt, dann wegen ihrer Familie oder einem Mann... Doch im Gegensatz zum Mann, tut die Familie alles dafür, dass die Frau eben nicht trinkt. Weißt du, wer das gesagt hat?"
Ich schüttle den Kopf und nippe weiter an meiner Flasche. Da sie, bei Schnee und Eis, draußen in einem Auto gelagert hat, hat das Bier genau die Temperatur, die ein richtiges Bier haben sollte.
,,Meine kleine Schwester."
,,Marian?" Ich bin erstaunt, dass mein Gedächtnis nach drei Bechern Rotwein und einer Flasche Bier noch so gut funktioniert.
,,Hm-mh. Meine kleine Stiefschwester." Jade beginnt mit dem Sixpack herumzuspielen. ,,Gestern habe ich geweint. Geweint und getrunken. Ich dachte sie schläft schon, aber... naja, das tat sie nicht. Sie kam in mein Zimmer, legte einen Arm um mich und sagte, Männer seien Schweine. Ich habe sie gefragt, woher sie wüsste, dass es wegen einem Mann sei und dann hat sie eben diese beiden Sätze gesagt. Dabei ist sie noch so jung... Weißt du was mir gestern aufgefallen ist?"
Ich schüttle wieder den Kopf und lasse mir von Jade ein zweites Bier reichen. Auch sie nimmt sich das nächste.
,,Sie hat die gleichen grünen Augen wie ich. Die gleichen grünen Augen wie mein Vater. Wie zwei Smaragde." Eine vereinzelte Träne rinnt ihre Wange hinunter und als sie dann noch mit ihrer Hand über ihr Gesicht wischt, ist Theresas Kunstwerk völlig verschmiert. Selbst an ihrer Stirn klebt türkisfarbenes Make-up.
,,Jade. Ich würde dir so gerne helfen..." ...doch dies ist ein Kampf den jeder selbst zu führen hat, vollendet die Stimme in meinem Kopf den Satz. Und natürlich hat sie recht. Das einzige was wir füreinander tun können ist Trost spenden. Also kuschel ich mich an ihre Schulter und ziehe die Decke, die über ihren Beinen liegt, ein Stück weit über meine eigenen.
,,Vielleicht tröstet es dich ja, dass ich genauso sehr leide wie du", scherze ich müde. Und tatsächlich lacht sie. Kurz und abgeschnitten, aber die lacht. Das ist doch schon mal etwas.
,,Ich bin mir ziemlich sicher, dass gerade Millionen von Frauen ähnliche Schmerzen ertragen müssen", zieht Jade mich auf und da kann ich ihr leider nicht widersprechen.

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