,,Nein!!"
Ungläubig betrachte ich das Kleid, welches die zittrigen Finger meiner Tante halten.
,,Nein!", wiederhole ich, diesmal gefasster.
Meine Tante wirft Theresa einen freudigen Blick zu und im selben Moment geht mir auf, was meine Freundin gestern noch so dringend organisieren musste.
,,Hinsetzten und Klappe halten", befiehlt sie und ich gehorche.
Zuerst mattiert Theresa meine blasse Haut, dann tupft sie mir hellblauen, schimmernden Lidschatten auf die Lider, der meine Augen zur Geltung bringt.
Da ich mir immer wieder nervös mit der Zunge über die Lippen fahre, beschließt Theresa keinen Lippenstift aufzutragen. Stattdessen macht sie sich nun an meine Haare, während meine Tante beginnt meine Nägel schwarz zu lackieren.
,,Hört auf euch solche Umstände zu machen", klage ich und meiner Freundin entfährt ein nicht sehr freundschaftliches Zischen.
,,Ruhe jetzt", schnauzt sie und steckt mir die Haare ein Stück nach hinten und oben, von wo an sie mir offen und in Wellen über meine Schultern fallen. Kleine weiße Perlen schmücken mein feuerrotes Haar und das Haarspray lässt sie im Licht natürlich glänzen.
Anschließend steckt Theresa mir noch weiße Perlenohrringe in die Ohren und hilft mir in mein Kleid.
Bis sie endlich den Spiegel freigibt sind meine Handflächen schweißnass und meine Knie wackelpuddingweich.
,,Ich bin wunderschön", flüstere ich und berühre mit meinen Fingerspitzen die glatte Oberfläche des Spiegels. Mein Herz hört kurz auf zu schlagen und meine Atmung wird unkontrolliert schneller.
Das Kleid ist ausnahmsweise trägerlos. Es ist oberhalb der Hüfte hellblau - wie mein Lidschatten - und wird nach unten hin immer dunkler, bis der Saum in einer Farbe wie Patricks Augen sie haben über den Boden gleitet.
Mein Dekolleté ist mit Strass besetzt, der sich an meinen Seiten entlang zieht, bis zu zwei breiten Ausschnitten, die ebenfalls mit Strass besetzt sind.
Zuerst ist es ungewohnt, an meinen Seiten so viel nackte Haut zu zeigen, aber ein Blick in den Spiegel macht alles wieder wett. Noch nie fand ich mich so unglaublich hübsch!
So feminin!
Zum verlieben schön!
Ich steige in meine bequemen, schwarzen Sechs-Zentimeter-Absatzschuhe mit den vielen lustigen Riemchen.
Auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin, trage ich keine zwei Minuten später Patricks silber-weiße Kette mit dem flachen, smaragdgrünen Anhänger um den Hals. Irritierenderweise passt das dunkle grün gut, zu den vielen verschiedenen Blautönen.
Ich seufze verträumt und drehe mich um die eigene Achse. Der leichte Stoff flattert um mich herum und ich fühle mich plötzlich wie in einem Jane Austan Roman.
Als ich wieder zum Stehen komme, ist mir schwindelig.
,,Das Kleid hat sich deine Mutter wenige Tage vor ihrem... Unfall gekauft", erzählt Tante Pam mit schmerzverzerrten Gesicht und streicht mir über die Wange.
Theresa hat ihr platinblondes Haar ebenfalls nach oben gebunden, dort allerdings mit silbernen Spangen festgesteckt. Außerdem schmückt sie ein bodenlanges, beigefarbenes Kleid, mit tiefen Dekolleté, hoher Taille und den gleichen weiß-silbernen Ohrringen wie ich sie trage. Ihre Schuhe sind flach und als Theresa meiner Tante anbot ihr die Nägel zu lackieren, winkte diese nur ab.
Theresa selbst ist eine Augenweide für jedermann. Ihre Haare fallen ihr geglättet über die Schultern bis fast über den Po und der dunkle Lidschatten verleiht ihr ein unheimlichen Auftreten. Ihr Kleid ist weinrot, ziemlich kurz und an der Hüfte mit weißen Pailletten besetzt, die glücklicherweise völlig von ihrem breiten schwarzen Gürtel verdeckt werden. Ihre hellen Schuhe haben Absätze mit denen ich mir beide Knöchel auf einmal brechen würde.
,,Können wir los?", fragt meine Freundin und greift nach ihrem schwarzen Bolero und ihrer kleinen Handtasche.
Meine Tante legt mir ihre Hand auf die Schulter, blinzelt die Tränen fort und nickt schließlich.
Ich raffe meinen Rock, um nicht auf den Saum zu treten und lasse mir von Theresa in eine durchsichtige Bluse helfen. Ich atme noch ein letztes mal tief durch, dann folge ich meiner Tante nach draußen an die frische Luft.Es ist rappel voll, doch während Theresa andauernd darauf achten muss, dass ihr niemand auf die Füße tritt, weichen mir die Leute unaufgefordert aus. Sie achten darauf mir nicht zu nahe zu kommen und beginnen laut zu tuscheln, wenn ich an ihnen vorbei schreite, was wohl an meinem langen Kleid liegt.
Ohne Unterbrechung werden mir Komplimente gemacht und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
,,Angélique!", ruft Pam plötzlich und winkt nach ihrer Freundin.
,,Hallo Pamela", grüßt die Künstlerin meine Tante und drückt sie kurz. ,,Hallo Charisma."
,,Hallo Angélique. Wie gefällt es dir hier?", frage ich höflich und schüttle ihre Hand.
,,Bien! Fantastique!", lacht sie. ,,Eine schöne Idee diese Spendengala. Darf ich sagen, dass du wunderhübsch aussiehst?"
Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht kriecht und blicke zu Boden.
,,Danke sehr. Du siehst aber auch très jolie aus", nuschel ich und könnte mich für meine Wortwahl auf der Stelle ohrfeigen, doch Angélique lächelt nur amüsiert.
,,Darf ich Ihnen ihre junge Tante für einen winzigen Augenblick entführen, Mademoiselle?" Sie deutet einen Knicks an und strahlt wie ein Honigkuchenpferdchen.
Ich habe Angélique sehr, sehr gern und deute ebenfalls eine Verbeugung an.
Im nächsten Moment zieht Theresa mich an meinem Ellenbogen mit sich.
,,Schau mal!!", kreischt sie, über die leise Musik und das laute Gemurmel der Leute hinweg.
Ich folge dem ausgestreckten Zeigefinger meiner Freundin, grinse ein wenig unbeholfen und lasse mich weiterzerren. Keine fünf Sekunden später stehen wir vor Dr. Howard, Nathan und einer jungen Frau.
,,Cara? Wie geht es dir?", fragt mein Arzt mit einem nachklingenden Unterton. Wieder mustere ich die Holzdielen zu meinen Füßen. Sie wirken so unglaublich alt.
,,Gut", sage ich laut genug, das Dr. Howard mich verstehen kann. Seine Adleraugen beobachten mich aufmerksam. Sobald er bemerkt wie nervös mich das macht, sieht er weg und wechselt sogar das Thema.
,,Darf ich dir meine Tochter vorstellen?"
Ich schaue auf... in ein paar grün-braune Augen, die denen von Dr. Howard nicht unähnlich sehen.
,,Hi. Ich heiße Kimberly", stellt sich die junge Frau vor und drückt sanft meine Hand. Sie hat lange dünne Finger und weiche Haut.
,,Wir kennen uns ja schon", begrüßt Theresa Kimberly strahlend und nimmt sie kurzerhand in den Arm.
Erst jetzt fällt mir auf wie ungewöhnlich still Nathan ist. Seine Pupillen sind geweitet und seine Finger spielen ohne Unterbrechung an den Knöpfen seines Jackets herum.
,,Alles okay, Nathan?", erkundige ich mich und mache einen Schritt auf ihn zu.
,,Ähm... Ja... Klar..." Er lächelt gezwungen. ,,Sieht heute ganz passabel aus."
,,Danke. Du auch." Ich zwinker ihm erleichtert zu.
,,Wo ist deine Freundin?", frage ich neugierig, als ich unangenehme Stille über unsere Häupter senkt. Ich sehe mich um, als würde ich gennante Freundin in dieser Menschenmasse sofort ausmachen können.
Zeitgleich kichert Kimberly belustigt, während Nathan sich im Nacken kratzt. Mit klappt die Kinnlade herunter.
,,Nein! Wirklich!?"
Dr. Howard lacht warmherzig und schlingt die Arme um seine Tochter.
,,Ach, das wusstest du nicht?", stellt er fest.
Ich schüttle den Kopf und wende mich wieder Nathan zu. ,,Wie lange seid ihr schon zusammen?"
Er zuckt die Schultern. ,,Drei... Nein, vier Jahre."
,,Oh." Ich schlucke, um diese Information zu verdauen.
,,Ist das ein Problem für dich?" Seine Stimme klingt besorgt.
,,Hmm..." Darüber muss ich einen Moment nachdenken.
Irgendwie ist es schon komisch, dass mein guter Freund mit der Tochter meines Psych... Arztes zusammen ist. Andererseits wusste Nathan das vor vier Jahren ja nicht. Außerdem freut es mich, dass er so glücklich mit ihr zu sein scheint.
,,Eigentlich nicht, nein", antworte ich endlich und sehe wie Nathan ein gigantischer Stein vom Herzen fällt. Reflexartig nimmt er Kimberly aus den Armen ihres Vaters und hält sie selbst fest umschlungen, was mich ungewollt zu Lachen bringt. Auch Theresa kann sich nicht zusammenreißen. Und dann lachen wir alle. Sogar Dr. Howard kehrt in sein jugendliches Verhaltensmuster zurück.
,,Oh, da ist Back", ruft Theresa plötzlich und ist sogleich verschwunden.
,,Da hast du ja eine tolle Freundin", spottet Nathan, der wieder ganz der Alte ist. ,,Wollt ihr was trinken?"
Kimberly und ich nicken synchron und Dr. Howard verabschiedet sich schnell.
Nathan organisiert uns drei Gläser Champagner und ich muss an mich halten die klare Flüssigkeit nicht auf Ex zu kippen.
,,Hast du meinen Bruder schon gesehen?"
Nathan schüttelt den Kopf und lehnt sich gegen die Wand.
,,Und Jade?"
,,Wolltet ihr nicht zusammen herkommen?"
,,Eigentlich schon, aber sie hat kurzfristig abgesagt."
,,Warum?"
Bevor ich ihn aufkläre nippe ich an meinem Champagner. Das er teuer ist merke ich daran, wie prickelnd er mir auf der Zunge zergeht.
,,Sie kommt später mit Marian."
,,Mit ihrer Stiefschwester?"
Ich nicke. ,,Sie soll gefleht und gebettelt haben und da konnte Jade ja schlecht 'Nein' sagen."
,,Ich freue mich die Kleine kennenzulernen. Kommt Javier auch?"
Ich zucke die Schultern.
,,Und Patrick?"
Diesmal zuckt er die Schultern.
,,Entschuldigt, aber wer sind Jade, Marian und Javier?"
Ich beneide Kimberly um diesen Satz.
Ich beneide sie um ihre Unwissenheit.
Ich beneide sie um ihre innige Beziehung zu Nathan.
Ich beneide sie um ihren Vater.
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Our Second Chance
Teen FictionRoman: Charisma und Patrick haben in ihrem gesamten Leben nur einen einzigen wirklich schweren Fehler gemacht. Sie haben beide für den anderen entschieden. Und sie haben diese Entscheidung nicht im Vorteil für sich getroffen. Sie haben nur an den an...