Kapitel 1

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Meine Finger waren schon längst taub, da ich keine Handschuhe besaß. Ich war schon seit zwei oder drei Stunden draußen, lief umher und trug Zeitung aus. Die Frage, die ich mir immer wieder stellte: „Wieso mache ich das hier eigentlich?". Mein mittelblondes Haar war schon fast steif und voller kleiner Eiskristalle. Es war weder von einer Mütze bedeckt, noch von einer Kapuze geschützt und ich schlug mich in diesem Zustand durch die kalten Straßen der Kleinstadt. Neben mir schob ich das quietschende, dunkelviolette Fahrrad, in dem sich die Zeitungen befanden. Kostenlose Zeitungen, die fünfzig Prozent der Menschen sofort wieder in die Papiertonne (und manchmal nicht mal das) warfen, da sie sich nur mit solch anspruchsvollen Medien wie „RTL Aktuell" und der „Bild" auseinander setzten. Manche dieser Menschen grüßten mich nicht einmal richtig, sondern starrten nur bedrohlich aus dem Fenster, wenn ich ihrem Blumenbeet zu nah kam. Das schönste an dieser Arbeit, die ich da verrichtete, war, dass ich ungestört über Dinge nachdenken konnte, während meine grünen In-Ear-Kopfhörer meine Ohren wärmten. Dinge, denen ich sonst nicht so einfach Zugang in meine Psyche gewähren würde, da ich Angst hatte, irgendjemand könnte doch noch in letzter Sekunde meine Gedanken lesen. Woran ich dachte? Nun, das war so... Ich hatte zu dieser Zeit einen Freund, der vier Jahre älter war als ich. Er ist neunzehn, kleine Rechenaufgabe also, wie alt ich dann bin. Haha und genau das ist der Grund, warum ich nicht etwas Normales arbeiten kann, wie Eis verkaufen oder so. Um sein Aussehen zu beschreiben: naja, er hatte nicht gerade eine Figur wie ein Model, um ehrlich zu sein. Und das ging sogar so weit, dass er in Depri-Phasen schreibt, ich würde ihn eh bald wegen einem anderen Typen verlassen. Ich erklärte ihm immer, dass das nicht so sein würde, doch irgendwie begann ich darüber nachzudenken. Nicht, dass ich ihn verlassen wollte. Aber darüber, dass ich immer trauriger wurde, wenn andere mit ihren attraktiven Freunden angaben und ich ...naja. Darüber, was ich machen würde, wenn der Fall wirklich eintreten würde, wie er es vorausgesagt hatte. Wenn ein Typ kommt, der total hübsch ist und auf mich steht, wenn der Neuseeländer kommt, mit dem ich schrieb. Oder was wäre, wenn Lucas kommt. Wie würde ich reagieren? Würde ich wirklich so oberflächlich sein? Ich sagte ihm, dass ich nicht wegen eines Typs Schluss machen würde, sondern, dass wir uns nur trennen, wenn einer oder beide keine Gefühle mehr haben. Er hatte darauf nur gesagt, dass diejenige, dann ich sein würde, da er mich über alles liebt. Und ich dachte häufiger darüber nach, wie sehr und ob ich ihn überhaupt liebte. Wenn er da war, konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, wenn ich ihn sah oder mit ihm schrieb, wollte ich bei ihm sein, aber wenn nicht, stellte ich mir all diese Fragen. Tja und über solche Dinge dachte ich nach, während ich draußen in der Kälte stand und extrem fror. Ich hatte schon mehrmals die Vision gehabt, dass Körperteile einfach so abfallen, wenn sie längere Zeit taub waren und wie mein Fuß wohl aussehen würde, wenn keine Zehen mehr dran wären. Es war Weihnachtszeit und nur noch wenige Wochen bis zum heiß ersehnten Heiligabend. An dem auch meine Cousine kommen würde, die mich wieder für eine riesige Schlampe hielt. Oh, das gab Vorfreude. Mindestens so viel, wie mein zukünftiger Chorauftritt. Ja, ich war im Chor, was allerdings nicht heißt, dass ich eine Solostimme bekommen habe. Ich faltete eine Zeitung und presste sie voller Gewalt und einen verdammt kleinen Briefkasten. Es war der der Familie Bernhardt, das dachte ich mir. Diese Menschen waren mir zuwider mit ihrem pissgelben Haus und ihrem verdammt kleinem Briefkasten. Da fiel mir wieder ein, wie mein Freund mal gesagt hatte: „Und ja, Gewalt ist eine Lösung", als ich ein paar Wochen zuvor mit ihm Zeitung ausgetragen hatte und mich beim selben Briefkasten so abgemüht hab. Das brachte ein kurzes Lächeln auf meine Lippen, welches wiederum dazu führte, dass dieses spießige Ehepaar, das an mir vorbei lief, das Tempo erhöhte und mich seltsam ansah. Ich faltete die Zeitung und ging zum nächsten Briefkasten. Plötzlich hörte ich, wie sich jemand von hinten näherte. Instinktiv zog ich meinen Arm ran und als ich ganz sicher war, dass dieser „jemand" sehr nah hinter mir war, schob ich meinen Ellenbogen mit Nachdruck nach hinten und verpasste dem Vollidioten, der auf die Idee gekommen war, mir Angst einjagen zu wollen, einen kräftigen Ellenbogenstoß. Sofort vernahm ich ein Stöhnen und ein „AU! Verdammt!". Die ersten Millisekunden hob mich das garnicht an, bis mein Kopf die Stimme zuordnen konnte und ich meine Hände vor meinen zum O geformten Mund schlug und mich umdrehte. Vor mir stand mein Freund, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Stelle an seinem Oberkörper hielt. Er ist kaum größer als ich. Auch heute noch. „Das...tut mir leid! Ich habe nicht damit gerechnet! Wirklich!", rechtfertigte ich mich.

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