Kapitel 28

22 3 4
                                    

Als wir nach den Lobgesängen dieses Herrn das Gebäude verlassen hatten, liefen wir zuerst stumm nebeneinander her. Nach ungefähr einem Kilometer hielt ich es nicht mehr aus. „Wo warst du?", brach ich heraus. „Wo warst du?", entgegnete er. „Ich hab dich gesucht. Du warst nicht zuhause." Aggressiv atmete er durch die Nase aus. „Du warst bei mir zuhause?"

„Ja und du?"

„Bei dir." Verwirrt sah ich ihn an, dann verstand ich. Es wäre wohl besser gewesen, wenn ich doch zu mir gefahren wäre.

„Ah."

„Wieso bist du nicht nachhause gekommen?" Ich schluckte. Ich hatte es geahnt. Wie sollte ich mich denn jetzt erklären? Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass er das von mir und seinem Bruder wusste. Abgesehen davon ist es sowieso weniger cool, wenn man erfährt, dass der eigene Bruder im eigenen Bett mit einer anderen Person ... naja...

„Bin eingeschlafen." Da fiel mir ein, dass ich heute noch gar nicht geduscht hatte. Aber er schon. In meinem Haus. Das war dreist. Gut, andererseits war ich auch nicht viel besser. „Hast du bei mir geduscht?", musste ich einfach fragen.

„Ja, wieso?"

„Nur so." Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war eine merkwürdige Situation. Wir hatten über Nacht Häuser getauscht. Das war wie bei Goldlöckchen und der Bärenfamilie da. Schließlich waren wir an der Straßenbahnhaltestelle angekommen. Kaum zu glauben, dass sie nach einem Kilometer Wald der Meinung waren, dass eine Straßenbahnhaltestelle etwas bringen würde.

Schweigen.

Schweigen, das ich brechen wollte. Schon wieder.

„Bist du jetzt sauer?", fragte ich.

„Nein."

„Sondern?"

„Verwundert trifft es wohl am besten. Hast du wenigstens gut geschlafen?", fragte er. Auf irgendeine Art und Weise sah er dabei richtig süß aus. Verdammt, was war mit mir los? „Ja ganz gut. Und du?" Er nickte und warf mir ein spitzbübiges Lächeln zu. „Fährst du jetzt gleich zu dir nachhause oder möchtest du vorher vielleicht noch mit zu mir nachhause auf eine Art Entschuldigung-für-die-Verfehlung-gestern-Abend-Besuch?", bot ich an. Ich hoffte inständig, dass er nicht ablehnen würde. Noch sollte er nichts von der Wiederkehr seines Bruders wissen. Und da er so eine Plaudertasche war, würde das mit mir und ihm wohl auch nicht lange unsere kleine Angelegenheit bleiben. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie er reagieren würde. Andererseits war es sehr egoistisch von mir, es vor ihm so lange wie möglich geheim halten zu wollen. Was erhoffte ich mir denn davon? Ich interessierte ihn abgesehen von unserer gemeinsamen Arbeit doch nicht so wirklich. Er hat selbst gesagt, dass das damals ein Fehler war. Wieso er dann auf einmal in letzter Zeit so ... naja anders war, konnte ich mir zwar nicht erklären, aber hey. „Also?", fragte ich nochmal. „Ich hab doch schon ja gesagt." Ach echt? Das hatte ich wohl überhört. Ich kaschierte diese Peinlichkeit mit einem Lächeln und stieg schnell in die Straßenbahn, die mich zum Glück aus dieser Situation befreite.

Bei mir zuhause angekommen, ging ich zuerst in die Küche und machte Wasser heiß. Dann stellte ich in der Stube die Musik an und wartete, bis ich den Tee aufgießen konnte. Als ich da gerade so stand und zum Fenster herausblickte, fiel mir ein, dass ich in letzter Zeit viel zu viel nachdachte. Vorher war ich nie so ein Mensch gewesen, der alles auslotete, doch aus mir unbekannten Gründen, hatte sich das auf einmal total geändert. Unglücklicherweise wurde ich von meinem Handyklingeln aus meiner Pussycat-Dolls-Nachdenk-Aura gerissen. Schnell holte ich es hervor und traute meinen Augen kaum.

Schatz, wo bist du? :*

Sein Ernst? War das sein gottverdammter Ernst?

Andre.

Er würde mich doch nicht wirklich vermissen. Das war nur einfach so. Redete ich mir zumindest ein. Ich antwortete. Zuhause, wieso?

Ich hörte Schritte. Das musste Slayer sein, der gerade von draußen zurückkam. Er hatte noch kurz geraucht. Ja, bis jetzt hatte ich noch nicht erwähnt, dass Slayer rauchte. An Tatorten vermied er dies auch logischerweise. Rauchen ist nicht gesund. Aber leider muss ich zugeben, dass ich den Geruch von Zigaretten manchmal total toll finde. Ganz besonders die von Slayer. Die stanken nicht so, sondern waren irgendwie anders. Schnell ließ ich mein Handy in die Tasche sinken und drehte mich herum. Da stand er auch schon vor mir.

Diese Augen.

Sie waren nicht voller Lebensfreude, Spontanität und Verlangen, wie die seines Bruders. Vertrauen und etwas Verrücktheit waren das, was ich darin sah. Und sie zogen mich augenblicklich in ihren Bann.

Wir sahen uns an. Wie zwei Vulkane, die gleich ausbrechen würden. Und dann kam es über uns. Ich griff nach seiner Hand. Er zog mich zu sich heran und ich legte meine Hände an seinen Hals. Aus der Stube konnte man nach wie vor die Musik vernehmen und ich spürte, wie er aufgeregt einatmete, bevor sich unsere Lippen berührten. Ich fühlte seine auf meinen und seine Hände an meiner Taille. Wir liefen ganz kleine Schritte weiter nach hinten, bis ich an der Wand lehnte. Erschrocken über diesen plötzlichen Wandkontakt atmete ich aus und wir lösten unsere Lippen voneinander. Ich wusste, was kam. Aber ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte nicht hören, dass es nichts bedeutete. Oder, dass es ihm etwas bedeutete. Ich wollte nicht wissen, dass es ein Fehler war. Oder, dass es keiner war. Ich wollte nur diesen Moment.

Die kurzen Bruchteile einer Zeiteinheit, bevor mir einfiel, was ich letzte Nacht getan hatte.

Bevor mein Gewissen begann zu arbeiten.

Bevor ich diese Situation mit anderen verglich.

Vince, der mir auf die Lippe biss beim Küssen.

André, der mich küsste wie ein Frosch mit Hyperhydration.

Oder Andre, das wohl größte Problem.

Bevor ich mich schlecht fühlen konnte, deswegen.

Also legte ich meinen Finger auf seine Lippen, murmelte ein leises „Nicht reden" und küsste ihn, damit er schwieg. 

Frozen LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt