Der Elf und der Magier

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Und, wo selbst der Prophet mit Zagen

Den Blick gesenkt und heil′gem Graun,

Wie wolltest du′s, o Kleine, tragen,

Die Gottheit unverhüllt zu schaun?

Adolf Friedrich Graf von Schack, Der Tod der Nachtigall


Die ganze Nacht wälzte ich mich im Bett herum, las, bis meine Augen zufielen, stand auf, trank etwas, ging herum, es brachte nichts. Kaum dass ich die Augen geschlossen hatte, sah ich unscharfe Gestalten, lachende Fratzen, Rufe, verrückt, verrückt, verrückt. Irgendwann gab ich es auf, warf die Decke zurück und machte das Licht an, während ich bereits nach Block und Stift griff. Schreiben war gut. Schreiben beruhigte mich.

Er steht allein im Mondenlicht,

Feuerschatten auf dem Gesicht.

Flammenzungen lecken an Haut,

den andern vor dem Tode graut.

Er weiß, dass ihm kein Leid geschieht,

Schon lange hat er das Feuer besiegt.

Die Flammen wirbeln in tödlicher Pracht,

allein sein Wille hält sie in Schacht.

Flackernd streben die Funken auf,

der Tanz des Feuers nimmt seinen Lauf.

Der Stift fiel mir aus der Hand. Leise fluchend tastete ich unter meinem Bett danach, aber ich erreichte ihn nicht. Ich schüttelte die Decke ab, nahm einen anderen Kuli vom Schreibtisch und stopfte ihn zusammen mit dem Block in meine Tasche. Innerhalb von Sekunden waren meine Füße zu Eisbrocken erstarrt, schaudernd kletterte ich unter meine Decke zurück. Jetzt spürte ich auch die Müdigkeit wieder, die wie zähflüssiger Leim in mein Bewusstsein sickerte. Ich knipste das Licht aus und schloss die Augen.

Ich stand vor einem Spiegel. Die Ohrringe steckten in meinen Ohren, die Haare standen wirr von meinem Kopf ab, dunkle Ringe lagen unter meinen Augen. Vielleicht war Aufstehen mittlerweile so ein Automatismus, dass ich es sogar im Schlaf erledigen konnte. Mein Gesicht im Spiegel verzog sich zu einem Grinsen.

„Du weißt nichts."

Ich stockte. Das Spiegel-Ich streckte mir die Zunge raus.

„Hast du gerade..."

Seine Hand schnellte vor, packte mich am Kragen und riss mich in den Spiegel. Im nächsten Moment stand ich genau am selben Platz wie eben. Als wäre nichts passiert. Schwer atmend klammerte ich mich an den Waschbeckenrand und versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Nur ein Wachtraum. Kein Grund zur Panik.

Als ich aufblickte, löste sich die Haut aus meinem Gesicht.

Kreischend wich ich zurück und stieß gegen die Wand, wollte mein Gesicht zusammenhalten und hielt stattdessen einen Fetzen meiner Wange in der Hand. Mein Spiegel-Ich grinste. Teile meiner Zähn e lugten unter den Hautresten hervor, ich wollte mich übergeben, würgte, konnte nicht.

„Erkenne die Wahrheit", krächzte mein Spiegelbild und riss sich die Nase ab. Ich schrie immer noch, als ich schweißgebadet und schwer atmend aufwachte. Mein Herz raste, raste, gleich würde es aus meiner Brust springen. Der Wecker zeigte 5:58 Uhr.



Ich taumelte mehr zur Bushaltestelle als das ich lief, die Straße ein verschwommenes Band aus grau und gelb, die Bäume in der diesigen Luft kaum vom Asphalt unterscheidbar. Ich versuchte, an Hausaufgaben zu denken, das Gelächter gestern, sich in Luft auflösende Jungen, vollkommen egal, solange dieser Traum nicht dabei war. Ich tastete nach meinem Gesicht, um sicherzugehen, dass noch Haut daran war, mein Magen verkrampfte sich.

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt