Eisen

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Es rasseln die Erzgewande,
Wo Quell und Lerche singt,
Und Eisen bringt er dem Lande,
Das goldnen Segen ihm bringt;

Anastasius Grün, Der eiserne Mann

Die Dunkelheit senkte sich so schnell über uns, dass die Dämmerung beinahe vollkom­men ausblieb. Tiberius lief unermüdlich weiter, es schien nicht so, als hätte er vor, demnächst eine Pause einzulegen. Doch mit jedem weite­ren Schritt zerrte die Müdigkeit mehr an meinen Nerven, und ich wusste, dass es den anderen nicht besser ging. Pan war bisher nicht wieder aufgetaucht, und die Sorge wuchs in mir mit jedem weiteren Meter. Bald war es so dunkel, dass ich die Hand kaum noch vor Augen sehen konnte, geschweige denn einen der toten Bäume. Oder den Boden. Als ich zum unzähligsten Mal stolperte, kon­zentrierte ich mich und ließ ein kleines Licht in meiner Handfläche aufflammen. So hatte ich wenigstens ein bisschen Licht. Allerdings schaffte das winzige Leuchten es kaum, unsere Umgebung zu erhellen - um genau zu sein, konnte ich dadurch vielleicht einen Meter weiter sehen als vorher. Auch wenn es trotzdem ausreichte, um die Bäume dazu zu bringen, noch unheimlicher auszu­sehen als sie es eh schon taten. Es kam mir vor, als wür­den ihre Äste nach uns greifen, die drückende Energie, die in der Luft hing, wurde mit jedem Schritt heftiger und verursachte mir ein leichtes Übelkeitsgefühl. Mein Blick wanderte zu Gin und Grey, die sich genauso wie ich nur noch voran­schleppten, sie sahen aus, als würden sie gleich im Gehen einschlafen. Mir ging es nicht besser, meine Augen drohten immer wieder, einfach zuzufallen. Es musste schon nach Mitternacht sein, und wir liefen seit Tagesanbruch ununterbrochen.

„Tiberius, wir müssen anhalten", sagte ich zum gefühl­ten hundertsten Mal, selbst ich hörte die Erschöpfung in meiner Stimme. „So können wir nicht weitergehen."

Mit einem entnervten Blick drehte der Magier sich zu uns um.

„Umso länger wir hier bleiben, umso gefährlicher wird es."

„Wenn wir vor Müdigkeit umfallen, hilft uns das aber auch nicht weiter!"

Ganz kurz muster­te Tiberius uns im Licht meiner kleinen Lichtkugel, sah die Erschöpfung in unseren Gesichtern, bevor er langsam nickte. Endlich!

„Wir werden hier die Nacht verbringen. Aber bei Morgengrauen brechen wir wieder auf."

Damit konnte ich mich zufrieden geben. Ohne auf ir­gendein Signal zu warten, ließ ich mich einfach auf den Boden fallen. Ich war so müde, dass ich wahrscheinlich überall hätte schlafen können - sogar auf verfaulten Pflanzen, was ich, wie es aussah, auch tun würde. Gin und Grey taten es mir gleich, Grey hatte sich dicht an Luna gekuschelt, die ihr die ganze Zeit auf den Fuß folg­te, seitdem wir das Haus ihrer Eltern verlassen hatten. Gin lag knapp daneben. Doch Tiberius blieb stehen und starrte einfach nur in den Wald hinein.

„Alles in Ordnung?"

„Er hätte schon lange zurück sein müssen", meinte Tibe­rius abwesend. Mir war klar, dass er Pan meinte.

„Aber... er wird zurückkommen, oder?"

„Bisher ist er immer zurückgekommen." Tiberius schüttelte den Kopf, als müsste er einen unliebsamen Gedanken loswerden. „So schnell wird man ihn nicht los." Nachdenklich sah er wieder in den Wald. „Etwas anderes bereitet mir viel mehr Sorgen."

Bei seinen Worten durchlief mich ein kalter Schauder.

„Und was?"

„Spürst du es nicht? Dieses drückende Gefühl?" Als ich zögernd nickte, erklärte er: „Das ist der Wald. Durch den Fluch hat er sich... verändert. Etwas liegt in der Luft, und ich befürchte, dass es alle, die den Wald betreten, genauso verändert wie den Wald selbst." Sein Blick glitt in die Ferne, mein Licht warf zuckende Schatten auf seine Züge. „Ich weiß nicht genau, was es ist, aber... es hat eine ag­gressive Aura. Es lechzt nach unserem Blut. Und ich ver­mute, wenn wir den Wald nicht schleunigst verlassen, wird es das auch bekommen."

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt