Gin

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Eh es zu Flamme kommt, nach allen Seiten
zuckende Zungen streckt -: beginnt im Kreis
naher Beschauer hastig, hell und heiß
ihr runder Tanz sich zuckend auszubreiten.
Und plötzlich ist er Flamme, ganz und gar.

Rainer Maria Rilke, Spanische Tänzerin


Meine Augen brannten von der Hitze des Feuers, aber meine Beine ließen sich nicht zur Bewegung zwingen. Ich lauschte der Musik, den Pferden, den lachenden Menschen. Es war, als wäre die Dunkelheit hier bedeutungslos, ein Platz zum Schlafen irrelevant. Im Lager gab es keine Nacht.

Erst als ich mir klar gemacht hatte, dass Pan nicht zurückkommen würde, schaffte ich es, auf die Füße zu kommen, meinen Rucksack zu nehmen und dem Feuer den Rücken zu wenden. Die kühle Nachtluft kribbelte auf meiner feuerwarmen Haut, ich versuchte, mir die Gänsehaut von den Armen zu reiben, während ich durch die Zeltreihen lief. Ich blieb den Lichtern fern. Allein wollte ich nicht mit den Gestalten zusammenstoßen, denen ich heute schon begegnet war. Weiter geradeaus, zwischen eng aneinan­der gereihten Zelten hindurch, an einem kleinen Stand vorbei, der Merane Babylone's Heiße Getränkestube ankündigte, und dann stand ich am Rande des Mittelplatzes. Keine lärmenden Menschen, keine Schausteller, kein Gesang oder Instrumente. Sie waren weitergewandert, zu anderen Festplätzen, und nur eine kleine Gaslaterne war geblieben, die neben einem Wimpel in der Mitte des Platzes hing. Auf der Fahne waren zwei Tiere mit Menschenmasken, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen.

Dann sah ich ihn.

Er stand allein auf der rechten Seite des Platzes, seine feuerroten Haare wie Flammen im Laternenschein. Der Junge, der mich vorhin beobachtet hatte. Fasziniert sah ich zu, wie er einen Arm ausstreckte, sein schmaler Körper aufs höchste gespannt.

Er schnipste und Flammen zün­gelten über seine Handfläche.

Es war kein Licht, wie Tiberius es mir gezeigt hatte. Es war echtes Feuer und die Flammen sprühten Funken, als der Junge sie wie einen Ball in die Luft schleuderte, sie zogen einen Bogen über seinem Kopf. Der Junge wirbelte herum, schien die Flammen­zungen an unsichtbaren Zügeln zu packen und sie folgten der Bewegung, wirbelten um ihn herum, umschlangen ihn, ein Kampf, ein Tanz. Es verbrannte ihn nicht. Seine schwarze Kleidung blieb unberührt. Das Feuer glitt seine Arme hinauf, tanzte über seinen Schultern, spielte mit seinen Haaren. Funken stoben um ihn herum auf, erleuchteten sein scharf geschnittenes, schönes Gesicht, als er die Hände zu einer Schale formte, die Flammen sammelten sich darin wie Wasser. Der Junge pustete hinein und die Flammen stoben in den dunklen Nachthimmel, sanken schneeflockengleich auf den Boden zurück.

„Es ist nicht sonderlich schlau, hier allein in der Nacht herumzuschleichen."

Ich zuckte zusammen. Der Junge, der eben noch auf der anderen Seite des Platzes gewesen war, stand so dicht vor mir, dass ich seine Wärme spüren konnte. Seine Augen waren grau wie Rauch und vollkommen ungerührt.

„Was machst du hier?"

„Ich... äh..." Ich versuchte, einen Gedanken zu fassen zu bekommen, aber ich war zu abgelenkt von den rußfarbenen und roten Strähnen, die ihm ins Gesicht fielen und der Frage, welcher Teil seiner Haare gefärbt war, das Rote oder das Dunkle. „Vielleicht habe ich mich ein bisschen verlaufen."

„Ein bisschen, hm?" Er grinste amüsiert, seine schmalen Lippen wurden noch etwas schmaler. „Keine Sorge. Das passiert den meisten Frischlingen."

„Moment." Und schon war alle Sympathie zu ihm und seinen tollen Haaren hinüber. „Frischling?"

„Du bist neu im Lager, oder?" Er musterte mich mit einem seltsamen Blick oder vielleicht lag es nur an seinen Augen. „Allein?"

„Was geht es dich an?" Ich wollte an ihm vorbeigehen. Erst einen Moment später bemerkte ich, dass ich mich nicht bewegt hatte. „Nein, ich bin nicht allein, wenn du es unbedingt wissen willst."

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt