Der Schlund

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Es schwebt eine Brücke, hoch über den Rand
Der furchtbaren Tiefe gebogen,
Sie ward nicht erbauet von Menschenhand,
Es hätte sich′s Keiner verwogen

Friedrich Schiller, Berglied

Zielsicher führte Tiberius uns weiter durch den eiserstarr­ten Wald, er schien sich seiner Sache absolut sicher zu sein. Keiner sprach, was an sich schon seltsam war, und irgendwie lag eine bedrohliche Stimmung über allem. Nicht mal ein Vogel oder sonst irgendein Tier war zu hören. Wahrschein­lich waren die auch zu Eis geworden. Irgendwann konnte ich die Stille einfach nicht mehr aushalten.

„Warst du schon mal am Schlund?"

Tiberius warf einen Blick über die Schulter zu mir.

„Nein." Ganz kurz blitzte etwas in seinen Augen auf, was mich stocken ließ. „Aber ich kann ihn fühlen."

Was war das? Dieses Gefühl, dass ich da gesehen hat­te... Sorge? Ich musterte ihn genauer. Wahrscheinlich war es Sorge. Tiberius sah insgesamt ziemlich besorgt aus, immer wieder sah er sich um, so kurz, dass ich es nicht bemerkt hätte, würde ich nicht darauf achten. Aber warum sorgte er sich? Ich bezweifelte, dass er sich Sor­gen um meine Schwester oder meinen Vater machte. Aber warum sonst? Mit diesen Fragen beschäftigte ich mich eine ganze Weile, hauptsächlich, um das Schweigen zu verdrängen, das schon wieder wie eine unsichtbare Wolke über uns lag. Seitdem wir unseren Weg fortgesetzt hatten, hatte Pan kein Wort mehr gesagt. Ich wusste nicht, warum, aber jedes Mal, wenn ich versucht hatte, ihn an­zusprechen, hatte er sich einfach in Luft aufgelöst - wort­wörtlich - und war einige Meter weiter wieder aufge­taucht. Irgendwann gab ich es auf und hing meinen düsteren Gedanken nach, bis die Dämmerung begann und Schnee und Eis in rotes Licht tauchte.

Unvermittelt blieb Tiberius stehen.

„Wir bleiben hier."

Überrascht sah ich auf.

„Hier?"

„Der Schlund ist ganz nah", erklärte Tiberius mit erns­tem Blick. „Wir sollten so lange in Avalon bleiben, wie es uns möglich ist. Ich für meinen Teil habe nicht vor, im Reich der Verdammten zu übernachten."

Dagegen konnte man ja kaum was sagen. Während sich langsam die Dunkelheit über uns senkte, ließ Gin in einem Kreis den Schnee schmelzen und entfachte in der Mitte ein großes Feuer - echt verblüffend, dass er das mit nassem Holz schaffte, aber er war schließlich... Wie hat­te die Hexe das genannt? Feuerelementar? Auf Tiberius abschätzigen Blick hin, als er auch noch begann, den restlichen Schnee um uns herum zu schmelzen, zuckte er nur die Schultern.

„Was? Ich hab keine Lust, das von heu­te Morgen noch mal zu wieder­holen."

Okay, das war wohl ziemlich einleuchtend. Mittlerweile spürte ich auch die Müdigkeit in mir aufsteigen - schließ­lich waren wir den ganzen Tag ohne Pause durchgelaufen. Es dauerte nicht mehr lange, bevor wir uns einfach auf den dank Gin frisch vom Schnee befreiten Boden legten. Es dauerte nicht lange, bis ich eingeschlafen war, aber bis zum letzten Moment dachte ich an den Schlund und fragte mich, was uns wohl dahinter erwartete.


Die Stimmen weckten mich. Müde blinzelte ich, das Feuer brannte noch immer, sodass wenigstens ein bisschen Licht blieb, um die zwei Gestalten daneben zu erkennen - Pan und Tiberius. Neugierig geworden, hörte ich genauer hin.

„... wäre besser, wenn du hier bleiben wür­dest."

Natürlich." Pan lachte spöttisch. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Tib."

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt