Offenbarungen

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Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.

Johann W. von Goethe, Dämmrung senkte sich von Oben

Die kleinen Männer - bei denen ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte, was sie waren - führten uns einen ewig langen Gang entlang, dessen Wände mit goldenen Bilderrahmen bedeckt waren, in denen schein­bar hunderte Szenen zu sehen waren, Kämpfe, aber auch Bankette und Rituale mit großen Feuern. Und jedes Einzelne war so fantastisch gemalt, dass es glatt wirkte, als würden sich die Figuren darauf bewegen. Am Ende des Ganges blieben die Männer wortlos stehen, sie schienen auf etwas zu warten. Pan ließ meine Hand, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte, los und ging auf sie zu.

„Danke", sagte er. Irgendetwas an der Art, wie er sprach, klang anders als sonst. „Richtet Taramyria aus, dass wir ihr morgen alles erklären werden." Er warf einen Blick aus den riesigen Fenstern, die sich auf der linken Seite des Ganges vom Boden bis zur hohen Decke erstreckten, die Goldfassung wurde an den Rändern von gigantischen, roten Vorhängen verdeckt. „Oder vielleicht eher heute."

„Ist es echt schon morgen?", stöhnte ich und folgte seinem Blick. Draußen war es noch komplett dunkel, kein Anzeichen davon, dass der Morgen bereits nahte. Und ich fühlte mich auch müde wie mitten in der Nacht. Aber wer weiß? Im Finsterwald war es schließlich auch die ganze Zeit über dunkel gewesen.

„Nein, aber Mitternacht ist schon vorbei..." Pan stutzte. „Moment - du hast mich verstanden?"

„Äh... ja?"

War daran irgendetwas komisch? Bisher hatte ich Pan schließlich auch immer verstanden, sobald er geredet hatte - so verwirrend seine Worte auch manchmal waren. Ganz kurz sah er mich noch prüfend an, bevor er grinste.

„Sieht ganz so aus, als hätten wir recht gehabt mit der Gabe der Tausend, Tib", grinste er, bevor er sich wieder mir zuwandte. „Das, was du eben gehört hast, war Elfisch."

Ungläubig sah ich ihn an und zog eine Augenbraue hoch.

„Nicht dein Ernst. Elfisch?"

Um ganz ehrlich zu sein, war ich nie so ein Tolkien-Fan gewesen, dass ich Elfisch gelernt hätte.

„Äh - doch." Pan lachte über meinen Gesichtsausdruck und schenkte mir ein Grinsen, das einen glatt aus den Socken hauen könnte. „Hey, ist das so abwegig? Nicht jeder spricht Englisch."

„Das ist mir auch klar, aber... Elfisch?"

Oh, bitte.

Beleidigt verschränkte Pan die Arme vor der Brust.

„Was ist daran denn so komisch?"

„Ach, nichts."

O-oh, da hatte ich mich wohl in was reingeritten, Pans Blick nach zu urteilen.

„Es sind zwei Zimmer übrig", stellte Tiberius fest und rettete mich damit vor einer Diskussion über Elfisch - allein der Gedanke war schon total absurd! Der Magier ließ den Blick über uns wandern. „Wie teilen wir uns auf?"

„Also ich finde...", begann Pan, als Tiberius ihm einen scharfen Blick zuwarf.

„Nein."

„Was nein? Ich hab doch noch gar nichts gesagt!"

„Du hast es aber gedacht, und die Antwort lautet nein", erwiderte der Magier unnachgiebig.

Will ich überhaupt wissen, was Pan Tiberius' Meinung nach gedacht hat? Ich schüttelte den Kopf. Wohl eher nicht.

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt