Liebe Mutter, ich möcht keine Hexen sehn.
»Liebes Kind, es ist wohl schon oft geschehn.«
Liebe Mutter, ob wohl im Dorf Hexen sind?
»Sie sind dir wohl näher, mein liebes Kind.«Willibald Alexis, Walpurgisnacht
Unbeirrt führte Tiberius uns weiter, als wäre Nichts passiert. Ich konnte es ihm nicht verdenken - schließlich wollte er so schnell wie möglich nach Avalon. Dieser Satz hört sich echt seltsam an, dachte ich kopfschüttelnd. Aber so war es halt. Auch wenn ich nicht genau wusste, was dafür überhaupt der Grund war.
„Warum müssen wir eigentlich nach Avalon?", fragte ich Pan, als ich es nicht länger aushielt.
„Hm...", meinte er und sah mit einem verschmitzten Grinsen auf Tiberius Rücken. „Gute Frage."
Offensichtlich wusste er es auch nicht. Na toll.
„Wer sagt eigentlich, dass wir mitgehen müssen?", fügte Pan hinzu.
„Ich sage das", rief Tiberius über die Schulter.
Wow, kann der gut hören, dachte ich überrascht. Wir waren ganz hinten gelaufen, also weit weg von Tiberius.
„Und wer sagt, dass wir auf dich hören müssen?" Pan verschränkte grinsend die Hände im Nacken. „Ist ja nicht so, als wäre es so erstrebenswert, vor den werten Herren zu kriechen, was Tib?"
„Niemand hat vor, vor denen zu katzbuckeln", sagte Tiberius scharf. „Und solltest du noch ein einziges Mal diesen Namen sagen, sorge ich dafür, dass du nie wieder etwas sagen kannst."
Pan verdrehte die Augen. „Du hasst diesen Wald wirklich, oder? Na ja, nachdem du hier...-"
„Wage es nicht, davon zu sprechen!", unterbrach Tiberius ihn mit einer Heftigkeit, die ich von dem Magier nicht erwartet hätte. Pan grinste hinterhältig. Oha, das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Dann sag uns, warum du uns durch die halben Nebelwelten bis nach Avalon schleifst. Ansonsten..." Pan zuckte mit den Schultern. „Ich hab kein Problem damit, davon anzufangen."
„Du drohst mir?", fragte Tiberius aufgebracht. Mit wenigen Schritten - wie auch immer er damit locker fünfzig Meter überbrückte - stand er direkt vor Pan, die beiden maßen sich mit Blicken. Tiberius war ein winziges bisschen größer als Pan, aber das schien den nicht weiter zu stören. Sicherheitshalber machte ich einen Schritt weg von den beiden. Da wollte ich nicht mit reingezogen werden.
„Du wagst es, mir zu drohen, Keijo Pandorys?"
Tiberius' Stimme war bedrohlich leise. Pan grinste und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was hast du erwartet?"
Tiberius hob eine Hand und stieß Pan den Finger vor die Brust, seine Augen blitzten.
„Ich dulde nicht, dass du wieder mit dieser Sache anfängst. Und mir ist vollkommen egal, welche Mittel ich einsetzen muss, um dich davon abzuhalten."
Pan ließ sich nichts anmerken, aber ganz kurz sah ich einen Ausdruck in seinen Augen, der mir beinahe Angst machte.
„Das würdest du nicht."
„Ach, nicht?", erwiderte Tiberius. Oh, nein, dachte ich und wurde automatisch an das erste Mal erinnert, als Tiberius Pan etwas befohlen hatte. Er wird doch nicht... Nein, das kann er nicht machen. „Keijo Pandorys, du wirst...-"
Ein grässliches Donnern, das den Boden zum Beben brachte und mich beinahe von den Beinen riss, unterbrach ihn. Blitzartig fuhr ich herum, mir stellten sich die Nackenhaare auf. Keine zwanzig Meter vor uns stand ein riesiges Wesen auf den Pranken eines Löwen, doch die Haut war schuppig wie die einer Echse und von einer gelbgrünlichen Farbe, während an jeder Pranke ein helles Fellbüschel zu sehen war. Auch der Körper war der eines Löwen, allerdings ähnelte der Schwanz eher dem eines Reptils. Aber am auffälligsten waren die drei Köpfe; der eines Löwen mit einer beeindruckenden Mähne in der Mitte, links der einer Ziege mit wild rollenden, roten Augen und rechts... ein riesiger Drachenkopf, aus dessen Nüstern kleine Rauchwölkchen aufstiegen. Ungläubig starrte ich das Wesen an. Eine Chimäre, dachte ich und wich unweigerlich einen Schritt zurück. Von so etwas hatte ich schon mal in Geschichte gehört, als wir griechische Mythologie behandelt hatten. Aber ich hätte niemals gedacht, dass es so etwas tatsächlich gab, niemals. Aber dasselbe hatte ich auch von Drachen und von den Nebelwelten insgesamt gedacht, also... Das Wesen - die Köpfe - sah uns aus allen sechs Augen hinterhältig an, bevor es sich leicht schräg stellte, die gewaltigen Pranken ließen die Erde bei jedem Schritt beben. Ungläubig sah ich, dass ein riesiger Sattel auf dem Rücken des Ungetüms lag, von dem jetzt eine Frau mit Leichtigkeit herunter sprang. Pan nahm mich beim Handgelenk und zog mich näher zu sich, als befürchtete er, dass die Frau mich gleich umbringen würde. Die ließ ihren Blick langsam über uns gleiten, es sah aus wie der Blick eines Biologen, der einen Käfer ansieht, den er gleich sezieren würde. Ein böses Lächeln schlich sich auf ihre schwarzen Lippen, die deutlich aus ihrer hellen Haut hervorstachen. Ihre Haare waren von einem tiefen Dunkelgrün, das beinahe schwarz erschien und ihr bis an die Kniekehlen reichte.
DU LIEST GERADE
Nebelsucher - Kinder des Waldes
ParanormalEin nerviger Elf, der dich in die Nebellande entführt? Ein grantiger Zauberer, der dir erzählt, du bist eine Magierin? Ein Heer verdammter Fantasywesen, das Jagd auf dich macht? Keira kann es nicht fassen. Und zu dem ganzen Schlamassel mit der Magi...