Die Bibliothek von Avalon

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Der Kuckuck lacht von Ferne,

es kommt mir in den Sinn:

Sie hat die goldnen Augen

der Waldeskönigin.

Theodor Fontane, Im Walde

Pan führte uns zurück in den Thronsaal und von da aus weiter, durch unzählige Gänge. So langsam hatte ich das Gefühl, dass er bereits öfters hier gewesen war. Gin lief als Letzter und schmollte vor sich hin, Grey ging neben mir, während Pan vor uns lief und sich immer wieder umdrehte, um uns irgendetwas zu erzählen. Ich hing meinen eigenen Gedanken nach.

Glaubt Tiberius wirklich, dass ich mir von irgendeiner Legende vorschreiben lassen würde, ob ich in jemanden verliebt bin? Da hat er sich aber geschnitten.

Wüsste ich, wer diese Königin des Waldes war, könnte ich vielleicht sogar verstehen - wenn auch bestimmt nicht befürworten - was Tiberius meinte. Aber jedes Mal, wenn ich Pan danach fragte, meinte er, er würde es uns in der Bibliothek erklären.

„Da ist nie irgendjemand. Keine Ahnung warum, aber die Leute hier sind irgendwie zu faul zum Lesen. Es ist besser, wenn wir ungestört sind, während ich euch das ganze erkläre", meinte er. Zweifelnd sah ich mich um. Bisher war uns in den Gängen hier auch noch niemand begegnet, das ganze Schloss wirkte auf mich ziemlich verlassen.

„Hey, du hast dich doch vorhin selbst unsichtbar gemacht, oder? Das können die anderen auch", meinte Pan grinsend.

„Und warum sollte das in der Bibliothek anders sein?"

„Weil das die Bibliothek von Avalon ist." Aha. Sehr aufschlussreich. „Das heißt, dass darin keine Zauber angewandt werden können."

Das machte mich stutzig.

„Gar keine?"

„Kommt drauf an, was du unter Zauber verstehst", meinte er. „Nehmen wir den Zigeuner mal als Beispiel."

„Hör auf mich so zu nennen!", rief Gin aus.

Pan ignorierte ihn geflissentlich.

„Das Feuer gehört zu ihm. Deswegen könnte er es trotz­dem einsetzen. Alles, was die Person oder ihre Art ausmacht, kann sie trotzdem verwenden. Aber der Rest - wozu auch Unsichtbarkeits­zauber und so was gehören - ist weg. Deswegen haben Magier in der Bibliothek auch so gut wie gar keine Kräfte mehr."

„Das heißt, in der Bibliothek kann ich nicht mehr als jeder x-beliebige Mensch auch?"

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

„Keine Ahnung." Pan zuckte die Schultern. „Du bist schließlich keine normale Magierin."

Ich brummte irgendetwas vor mich hin, das nicht mal ich selbst verstand. Zuerst Elfisch, und jetzt das! Die ganze Sache wurde immer verrückter.

„Das werden wir ja noch sehen", murmelte ich.

Pan grinste schief und deutete nach vorne.

„Schneller, als dir lieb ist."

Wir standen vor einer riesigen, mit unzähligen, fein gear­beiteten Schnitzereien verzierten Tür. Eigentlich schon ein Portal. Mit einer einfachen Handbewegung Pans schwang die riesige, doppelflügelige Tür nach innen auf und offenbarte einen lebendig gewordenen Traum. Die Regale, bis zum Rand voll gestopft mit Büchern, waren riesig, jedes einzelne reichte bis zur nächsten Etage, die durch einen Rundgang am Rande der Wand gekenn­zeichnet wurde. Dort oben standen Tische und verschiedene Sitzmöglichkeiten, und auch von dort aus führten wieder Regale bis zur nächsten Etage, wo es genauso aussah. Die drei Etagen - die, in der wir uns befanden, mit eingeschlossen - führten locker dreißig Meter in die Höhe, wenn ich nach oben sah, wurde mir beinahe schwindelig. Die obersten Bücherregale führten bis zu der gläsernen Decke, durch welche helles Sonnen­licht in den Raun drang. In der Etage, in der wir uns be­fanden, waren noch mehr Regale in der Mitte aufgebaut, die einen regelrechten Irrgarten bildeten, da sie, wenn auch nicht so hoch wie die Regale an der Wand, trotzdem mindestens drei Meter Höhe umfassten. Einige Sekunden stand ich einfach nur da und starrte wie gebannt auf die ewigen Bahnen aus Büchern, große, uralte Bände mit brüchigen Einbänden neben schmalen Heften und Schriftrollen aus Pergament... Ich kam mir vor, als wäre ich in die Bibliothek des alten Alexandrias gereist, bevor sie zerstört wurde. Grey war mindestens genauso gebannt wie ich, sie sah aus wie ein Kind, das den Weihnachts­mann besuchte, während sie ihren Blick über all die Bücher schweifen ließ. Der Geruch von Papier und Tinte hing in der Luft, vermischt mit irgendetwas anderem, das ich nicht genau entziffern konnte. Überrascht zuckte ich zusammen, als Pan meine Hand nahm, um mich weiter zu ziehen.

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt