Grey

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Rührend schöne Herzgeschichten,
Die ihm vor der Seele schweben,
Weiß der Dichter zu berichten.
Wovon aber soll er leben?

Wilhelm Busch, Auch er

Ich spürte den Sog, als würde ich wirklich irgendwo hingezogen werden. Als ich die Augen öffnete, war rings um mich alles tiefschwarz, da war nur eine tiefe Kälte, die mir einen Schauder nach dem anderen über den Rücken jagte. Als erneut etwas an mir zog, keuchte ich auf. Es fühlte sich an, als wollte mir jemand das Herz herausreißen. Ich versuchte Luft zu holen, doch es war, als würde ich Wasser atmen, bunte Lichtblitze schossen vor meinem inneren Auge vorbei, bevor alles wieder schwarz wurde, nur um wenige Sekunden später wieder­zukommen. Rings um mich herum schienen tausend Stimmen zu schreien, ohne einen Laut von sich zu geben, das Bedürfnis, die Hände auf die Ohren zu pressen, wurde immer größer, doch ich konnte meine Hände, meinen ganzen Körper nicht bewegen und kaum spüren. Meine Lungen schrien nach Luft, doch ich schaffte es nicht, einzuatmen, als würde ich ertrinken. Die Schwärze schien sich wie eine zweite Haut auf mich zu legen, mich zu erdrücken. Ich keuchte, doch keine Luft gelangte in meine Lungen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in meinem Kopf aus, und ich spürte, wie ich wegdriftete, dieser Sog mich immer weiter wegzog. Das Nichts schien mich zu verschlingen, langsam verlor ich auch den Rest meines Körpers und driftete immer weiter weg... Plötz­lich fühlte ich eine warme Berührung an meinem Hals, wie ein silberner Faden leuchtete sie vor mir auf. „Du musst jetzt aufwachen", sagte eine ruhige Stimme, die mir bekannt vorkam, doch mein benebeltes Hirn konnte sie nicht einordnen. Mühsam versuchte ich, mich wieder zu befreien, dem kalten Sog irgendwie zu entkommen. Es fühlte sich an, wie durch Teer zu waten, als würde man jede Sekunde feststecken, doch umso weiter ich mich freikämpfte, umso deutlicher hörte ich diese Stimme, die einen steten Sprachfluss von sich gab, wie eine Beschwö­rung. Langsam spürte ich, wie der Sog nachließ, mich freigab, beinahe konnte ich wieder atmen. Das Wasser wandelte sich in Luft, gierig sog ich den frischen Atem ein, und schlagartig sprang ich zurück in die Realität, zurück in meinen Körper. Doch die warme Berührung an meinem Hals blieb und als ich die Augen öffnete, sah ich direkt in Pans grüne Augen, so nahe, dass ich die Gold­partien darin erkennen konnte. Er hörte auf, Worte in einer fremden Sprache zu murmeln, und nahm die Hand von meinem Hals.

„P-Pan?", keuchte ich und setzte mich auf, meine Hände umklammerten den Rand der Pritsche so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. „Was... was war das?"

„Nur die Nachwirkungen von der Zeitreise", erklärte er, als wäre es nichts Besonderes, und grinste schief. „Das passiert manchmal, mach dir deswegen keinen Kopf."

Bei dem Gedanken an das, was gerade passiert war, durchlief mich ein eiskalter Schauder.

„Kann das noch mal passieren?"

Hoffentlich nicht.

„Kommt drauf an." Das beruhigte mich nicht gerade. „Hey, ich hab gesagt, du sollst dir keine Sorgen machen. Ich pass auf dich auf."

Bei seinen Worten musste ich unweigerlich lächeln. Wie oft hatte er das jetzt schon zu mir gesagt? Und ich machte mir trotzdem noch Sorgen. Allerdings war ich mir ziem­lich sicher, dass ich nach dem Erlebnis nicht mehr würde schlafen können. Durch die dichte Zeltplane konnte ich ein wenig Licht schimmern sehen, was wohl hieß, dass es schon Tag war. Mit einem Satz sprang ich auf die Beine und stellte befriedigt fest, dass der Schwindel von vorhin komplett verschwunden war. Ich griff unter die Liege und zog meinen Rucksack hervor. Mit verschränkten Armen und einem leicht spöttischen Grinsen beobachtete Pan, was ich da trieb.

„Und wofür genau soll das gut sein?"

„Ich will mir das Lager ansehen."

Unwei­gerlich musste ich an Gin denken und bei dem Gedanken schlug mein Herz schneller. Warum passierte das nur? Ich wusste es nicht. Ein bisschen hoffte ich auch, das Mädchen wieder zu treffen, das ich gestern Abend gesehen hatte. Warum, konnte ich mir selbst nicht erklären, aber irgendwie wollte ich herausfinden, was ihr Geheimnis war. Vielleicht lag es auch daran, dass sie schrieb, so wie ich.

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt