Denk dir, das was jetzt Himmel ist und Wind,
Luft deinem Mund und deinem Auge Helle,
das würde Stein bis um die kleine Stelle
an der dein Herz und deine Hände sind.Rainer Maria Rilke, Der Gefangene
Vom Rande des gewaltigen Tores rieselten Staub und Steine auf uns herab, schnell wichen wir weiter in den Innenhof zurück, um nicht von größeren Steinen getroffen zu werden. Die Gargoylefiguren, die bisher einfach nur Figuren gewesen waren, sahen aus, als würden sie vibrieren. Oder als würde irgendetwas mit aller Macht versuchen, sich aus ihrem Inneren zu befreien.
„Verdammt, ich hab's doch geahnt!" Pan schob mich hinter sich, in seiner rechten Hand blitzte ein Dolch auf. „Hätte mich auch gewundert, wenn nicht doch noch irgendein Monster aufgetaucht wäre, um uns umzulegen."
Ich konnte nicht antworten. Mein Blick war weiterhin starr auf die Statuen gerichtet, aus denen immer größere Stücke des dunklen Steins bröckelten. Ein kämpferisches Grinsen stahl sich auf Pans Züge.
„Aber mit ein paar Gargoyles werd ich noch fertig."
Er trat bereits einen Schritt auf das Tor zu, doch Tiberius packte ihn am Arm.
„Wir haben keine Zeit für einen Kampf!"
Pan zuckte merklich zusammen, all seine Muskeln waren angespannt. Über uns war ein weiteres Krachen zu hören, einer der Gargoyles hatte bereits seinen steinernen Arm befreit und arbeitete sich nun noch weiter an die Oberfläche. Ganz kurz sah ich glühend rote Augen aufblitzen, und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben.
„Ist ja nicht so, als hätten wir eine Wahl."
Es war offensichtlich, dass er auf einen Kampf aus war. Ein ernster Zug legte sich auf Tiberius' Züge, bevor er Pan losließ.
„Ich werde mich darum kümmern."
Nicht nur Pan starrte ihn fassungslos an.
„Was?", stieß Pan hervor. „Tib, wenn ich allein gegen einen von denen kämpfe, ist das eine Sache. Aber du bist immer noch menschlich! Menschen sind nicht halb so widerstandsfähig wie Elfen!" Beinahe flehentlich sah er Tiberius an. „Lass mich das erledigen."
In diesem Moment brachen noch größere Klumpen von Felsen aus der Torfassade, zerschellten auf dem Boden, Steinsplitter wirbelten durch die Luft. Zugleich hallte über die Mauer ein grässliches Geräusch, so schrill, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Tiberius wandte sich von Pan ab und ging auf das Tor zu.
„Du kannst doch nicht alleine...!", protestierte Pan - und wurde plötzlich von einer riesigen Klaue ergriffen und von den Füßen gerissen. Überrascht schrie er auf. Ich versuchte, seine Hand zu packen, doch das Wesen zerrte ihn zu sich hinauf in die Luft, außerhalb meiner Reichweite. Erschrocken stolperte ich einen Schritt zurück. Der Gargoyle war riesig, gut zweieinhalb Meter groß, seine Haut schien gänzlich aus anthrazitfarbenem Stein zu bestehen. Neben den Hörnern, die sich über seine Stirn bis zu seiner tiergleichen Schnauze zogen, blitzten blutrote Augen auf, die funkelten wie Rubine, und über denen eine dicke Steinschicht die Stirn des Monsters bildete. Kurzerhand rammte Pan dem Wesen seinen Dolch in den Arm, mit dem es ihn noch immer umklammert hielt, doch der Gargoyle schien es gar nicht zu bemerken, sondern trug ihn nur noch höher mit sich in die Luft. Pan versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen, seine Flüche hallten weit über das Schloss hinweg, als das Wesen seinen Griff noch verstärkte. Plötzlich schloss gleißend helles Licht an mir vorbei, die Energie prickelte auf meiner Haut. Eine Millisekunde später regnete es Steinbrocken auf uns herab, die prasselnd auf der Erde zerschellten. Mit einem unterdrückten Stöhnen landete Pan einige Meter weiter hart auf dem Rücken und schaffte es gerade noch so, sich abzurollen, bevor er von einem gewaltigen Steinklumpen erwischt werden konnte. Benommen blieb er liegen. Ohne weiter darüber nachzudenken, lief ich zu ihm und ging neben ihm in die Knie. Ein eiskalter Schauder überlief mich, als ich erkannte, dass es sich bei dem Steinklumpen, der Pan nur knapp verfehlt hatte, um den Arm des Gargoyles handelte.
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Nebelsucher - Kinder des Waldes
ParanormalEin nerviger Elf, der dich in die Nebellande entführt? Ein grantiger Zauberer, der dir erzählt, du bist eine Magierin? Ein Heer verdammter Fantasywesen, das Jagd auf dich macht? Keira kann es nicht fassen. Und zu dem ganzen Schlamassel mit der Magi...