Der Junge, der nicht erwachsen werden will

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So ist es nicht verwunderlich,

wenn ihn manch Zweifel still beschlich,

was dieses Leben wertvoll macht

verschwindet schnell, so hab gut acht.

Keira Whitethorn, Vergänglichkeit

Die Heiler kamen erst viel später, lange nachdem wir Pan in unser Zimmer gebracht hatten, und sie gingen bereits nach kurzer Zeit wieder. Sie meinten, sie könnten nichts weiter tun und das sich der Rest schon von selbst richten würde. Mittlerweile war die Dämmerung hereinge­brochen und eine geisterhafte Stille lag über dem Zimmer. Gin und Grey waren schon vor einer ganzen Weile gegangen, aber Tiberius war immer noch hier, mit mir in dem Zimmer, in dem Pan und ich die letzte Nacht verbracht hatten. Einige Male war Pan zu Bewusstsein gekommen, und jedes Mal hatte er unglaubliche Schmer­zen gehabt. Das letzte Mal war jetzt bestimmt schon eine Stunde her, und ungefähr genauso lange schien es mir auch her zu sein, seitdem Tiberius das letzte Mal etwas gesagt hatte. Dabei brannten mir so viele Fragen auf der Seele, dass ich von Innen wahrscheinlich auch nicht besser aussah als Pan. Irgendwann fasste ich mir ein Herz.

„Erzähl mir etwas von ihm."

Tiberius sah mich an, als hätte ich ihn aus den tiefsten Tiefen seiner Gedan­ken gerissen. Ich konnte seinem Blick nicht mehr stand­halten, weswegen ich zu Pan sah, der sich immer noch nicht bewegte.

„Gut", sagte er langsam. „Was genau möchtest du wissen?"

„Ich... ich weiß nicht", sagte ich, ohne ihn anzusehen. „Erzähl mir... erzähl mir, wie ihr euch kennen gelernt habt. Einfach irgendetwas. Bitte."

Er zögerte kurz, als würde er überlegen, ob er mir wirklich etwas erzählen sollte.

„Gut", sagte er dann endlich, als ich bereits dachte, gar keine Antwort mehr zu erhalten. „Ich erzähle dir  von dem Jungen, der nicht erwachsen werden will."

Überrascht sah ich ihn an. Der Junge der nicht erwach­sen werden will? Was hat das zu bedeuten?

Tiberius nickte.

„Ich erzähle dir die Geschichte genau so, wie ich sie er­lebt habe, und nicht anders. Es war vor etwa vierhundert Jahren, als ich wieder einmal in die Stadt kam. Taramyria hatte mich zu sich in ihr Schloss eingeladen, da ich sie lange Zeit nicht besucht hatte. Es war... ja, es war ein ziemlich heißer Tag, selbst für die Sommerlande von Avalon, die Gassen staubten und nur wenige Menschen waren vor den Türen, die anderen schützten sich in ihren Häusern vor der Hitze. Außer jene, die keine Häuser hatten. Ich weiß noch, dass mir wie so häufig in dieser Stadt einige Weisenkinder begegnet sind." Er sah mich an und seine Mundwinkel zuckten, als er meinen über­raschten Blick sah. „Die Waisen, die hier auf der Straße leben, sind etwas anders als die, die du kennst, Keira. Sie müssen nicht auf der Straße leben; das muss hier keiner. Aber sie verfügen über Fähigkeiten, die sie zu den besten Dieben des Landes machen können und, so seltsam es auch klingen mag, einige von ihnen haben sich genau das zum Ziel gesetzt. Jedenfalls war ich auf dem Weg zum Schloss, als ich unter den Kindern einen etwas unge­wöhnlichen Jungen fand. Weißt du, meistens sind es Gestaltwandler und Halbwesen, die sich für ein Leben auf der Straße entscheiden", erklärte er. „Ich weiß nicht, warum, und wahrscheinlich weiß es auch niemand sonst - es ist einfach schon immer so. Aber dieser Junge war ein reinblütiger Elf, das sah ich sofort."

Unweigerlich sah ich zu Pan. Es war eh klar, von wem er redete. Pan hat auf der Straße gelebt?

„Und was ist dann passiert?"

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt