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Immer noch verwirrt lege ich mich am Abend in mein Bett und lasse mir Joannas Worte noch einmal durch den Kopf gehen. „Ich hätte es wissen müssen, dass du sie auch noch dazu bringst! Und ich dachte du hättest vielleicht was daraus gelernt!" Was hätte sie wissen müssen? Woraus sollte Tarik etwas gelernt haben? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen kommen auf. Irgendwann drehe ich mich müde zur Seite und versuche einzuschlafen. Kurz bevor ich eingeschlafen bin, lässt mich das mir mittlerweile sehr vertraute Klopfen am Fenster hoch fahren. Davor steht eine Gestalt mit Kapuze auf dem Dach und ich kann mir schon denken, dass es Tarik ist. Also schwinge ich mich aus dem Bett und ziehe mir auch einen Kapuzenpullover über. Leise öffne ich das Fenster und lasse mich von Tarik hinaus heben. Kaum haben meine Füße den Boden berührt, greift seine Hand meine und zieht mich höher auf Dach, bis wir unseren Stammplatz am Schornstein erreicht haben. Dort lassen wir uns nieder. Tariks Hand hält immer noch meine, während mir alle möglichen Fragen durch den Kopf schwirren. „Warum..." beginne ich verzweifelt. Plötzlich weiß ich nicht, welche Frage ich zuerst stellen soll. Tarik scheint mich allerdings trotzdem zu verstehen und seufzt einmal, bevor er zu einer Erklärung ansetzt. „Ich weiß, ich bin dir eine Erklärung schuldig, aber es wird dir nicht gefallen..." Ich sah ihn weiter aufmerksam an, darauf wartend, dass er weiter spricht. „Ich... Verdammt... Wie soll ich es dir am besten sagen?" Er lässt meine Hand los, um sich mit beiden Händen durch seine Haare zu fahren. „Ich... Ich habe mal Drogen genommen!" platzt es dann plötzlich aus ihm heraus. Ich sehe ihn geschockt an und rutsche unbewusst etwas von ihm ab. „Ich habe während meines Aufenthaltes hier einen Freund gehabt. Joschua. Er hat mich immer mit auf dieses Dach genommen. Er ist auch öfters abgehauen und war allgemein kein sauberer Kerl. Aber verzweifelt und alleine, wie ich war, habe ich mich auf ihn eingelassen. Er hat sich regelmäßig Stoff besorgt. Alles Mögliche! Kein ungefährliches Zeug... Extasy, Cannabis, Crystal Meth, Marihuana,... Irgendwann hat er mir erzählt, damit werden sich alle Probleme in Luft auflösen. Naiv, wie ich war, habe ich ihm geglaubt und darin eine Lösung gesehen. Also haben wir uns abends hier auf dem Dach getroffen und haben einiges eingeworfen. Dann hat er mehrere Flaschen Wodka aus seiner Manteltasche gezogen. In dem Moment war ich schon zu benebelt, um aufhören zu können. Also habe ich zugegriffen. Ich war damals erst vierzehn. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt Drogen und Alkohol in der Hand hatte. Joschua hat immer mehr genommen und mir war sowieso alles egal... Also habe ich mitgemacht. Irgendwann fing Joschua an auf dem Dach zu tanzen. Ich sagte ihm, dass er es lassen sollte, aber er hörte nicht auf mich. Er nahm noch eine letzte Pille und spülte sie mit sehr viel Wodka herunter. Dann schrie er: „Weißt du eigentlich, wie gerne ich früher immer fliegen wollte? Ich glaube ich habe es eben gelernt." Er lallte nur vor sich hin und gerade, als die Informationen in meinem benebelten Gehirn angekommen sind und ich begriff, was er da gerade gesagt hatte, breitete er seine Arme aus, in einer Hand immer noch die Wodkaflasche. Dann sprang er und während des Falles schrie er: „Siehst du wie schön ich fliegen kann?" Kurz bevor er den Boden erreichte, hatte ich die Dachkante erreicht und sah ihn aufprallen. Es gab ein dumpfes Geräusch, begleitet von dem zersplittern seiner Flasche. Ich schrie auf und starrte auf die Blutpfütze, die sich unter ihm bildete. Ich griff alles, was noch oben auf dem Dach war. Alle übrig gebliebenen Drogen und Flaschen. Ich hechtete in mein Zimmer und sprang in mein Bett. Ich lauschte den aufgeregten Schreien und Schritten auf dem Flur und den Sirenen von draußen. Nie hatte jemand erfahren, dass ich bei ihm war in dieser Nacht. Von da an schmiss ich mir auch regelmäßig etwas ein, um die Bilder von Joschua für einen kurzen Moment vergessen zu können. Joanna war damals auch diejenige, die mich ungefähr drei Wochen später zugekifft und betrunken auf dem Klo gefunden hatte. Sie war damals noch ganz neu in dieser Klinik und total mit der Situation überfordert. Ich habe mich damals umbringen wollen und ich war unvorsichtig geworden. Ich hatte den Schmerz nicht mehr ertragen und auch tagsüber was eingeworfen. Nachdem sie mich entdeck hatte, wurde ich in eine Entzugsklinik verschoben. Dort wurde ich dann vor gut einem Jahr entlassen. Allerdings vertraut mir Joanna immer noch nicht in dieser Sache und dachte deshalb, dass ich zusammen mit dir Drogen nehmen wollte." Als er mit seiner Rede fertig ist und hochschaut, hat er Tränen in den Augen. „Erst habe ich meine Eltern, dann meinen Bruder und nur ein Jahr später meinen besten Freund verloren. Kannst du mich da denn nicht verstehen?" fragt er völlig aufgelöst, als ich immer noch schweigend und auf Abstand neben ihm sitze. Ich will ihn zwar nicht verletzen, aber wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich das nicht verstehen. Ich sage nichts, was ihn aber nur noch verzweifelter macht. „Ich weiß, dass es keine gute Idee war. Aber damals gab es für mich keinen anderen Ausweg! Ich kann doch auch nichts für mein beschissenes Leben!" Mit seinem verheultem Gesicht und allem tut er mir schon sehr leid. Vorsichtig rutsche ich wieder ein Stück näher an ihn heran und lege gut einen Arm um ihn. Er lehnt sich gegen mich und wir unregelmäßig von mehreren Schluchzern geschüttelt. Irgendwann sagt er: „Ich habe halt einfach niemanden in meinem Leben!" „Du hast mich!" Er schüttelt den Kopf. „Du hängst immer noch zu sehr an Benny. Du wirst mich niemals wirklich lieben können. Aber das ist schon okay. Mir geht's gut, okay?" Diesmal schüttle ich den Kopf und eine Zeit lang sagt niemand etwas, dann setzt Tarik sich auf und reicht mir seine Hand. „Komm, wir gehen rein!" Ich greife seine Hand und er zieht mich in Richtung meines Zimmers. In meinem Zimmer angekommen, setzt sich Tarik auf mein Bett. „Was machen wir heute?" sagt er fröhlich. „Ich weiß nicht... Aber du hast ja auch morgen Geburtstag!" Seufzend lässt er sich zurück fallen. „Stimmt ja..." „Komm lass uns zum See hier im Park gehen!" Er nickt und setzt sich wieder auf. Als ich an mir herunter sehe, fällt mir auf, dass ich immer noch nur mein Nachthemd und den schwarzen Kapuzenpulli anhabe. Schell gehe ich zu meinem Schrank, schnappe mir eine Hose und Unterwäsche. Als ich mich umdrehe, um Tarik hinaus zu schicken, ist er schon bei der Tür und zwinkert mir zu, bevor er diese hinter sich schließt. Eilig ziehe ich mich an und laufe zur Tür, hinter der Tarik mit zwei Papierbooten steht. Ein blaues und ein schwarzes. Er hält mir beide mit ausgestreckten Armen hin und fragt aufgeregt wie ein kleiner Junge: „Welches willst du?" Ich greife lachend nach dem Blauen, dann laufen wir zum Empfang und tragen uns aus. Auf dem Weg zum See hält Tarik meine Hand fest in seiner. Ich genieße die vielen Blumen um uns herum und die Sonne über uns. Alles wirkt so friedlich, doch als wir an einer Bank vorbei kommen, die inmitten eines Rosenbusches steht, stürzen unschöne Erinnerungen auf mich ein.

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