SITZUNG F Ü N F

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Sitzung F Ü N F

„Wissen Sie, es ist nur so...",er wippt unruhig mit seinem Bein, „jedes Mal...ich...also...jedes Mal...da ist es so-"

„Nick, lass dir Zeit. Ich möchte dich nicht unter Druck setzten." Dr. Fritscher lächelt ihn leicht an.

„Er hätte das nicht sagen dürfen...e-er hätte das nicht sagen", Nick wirkt aufgelöst. Stammelt schon seit einer viertel Stunde Dinge vor sich hin, die für Frau Fritscher nur schwer zu entziffern sind. Nick wippt mit seinem Bein auf und ab. Immer wieder fährt er sich durch die Haare, durchs Gesicht oder kratzt sich an dem wachsendem Bart. Oder er knabbert an seinen Daumenfingernagel.

„Wissen Sie...ich...ich...aber-",seine Augen sehen sie traurig an. So wie er vor ihr sitzt, haben ihn erst selten Leute gesehen. Dr. Fritscher rechnet jeden Moment damit, dass er anfängt zu weinen.

„Es ist alles gut, Nick-"

„Nein! Ist es eben nicht!"

Und dann brechen bei ihm die Dämme. Er beginnt hemmungslos zu weinen. Dr. Fritscher macht eine Schublade auf und sucht nach Taschentüchern. Als sie eine Packung findet, reicht sie sie ihm.

„Es ist gut zu weinen ,Nick. Es ist nichts schlimmes daran. Dir brauch das nicht peinlich zu sein. Weißt du wie viele andere Personen hier schon saßen, die wegen etwas geweint haben, dass nur halb so schlimm ist. Ich hatte hier mal eine vierzehnjährige sitzen, die geweint hat, weil sie eine drei geschrieben hat. Oder einmal einen Jungen, der weinte, weil er nicht ins Fußallteam aufgenommen wurden. Und selbst bei solchen Dingen ist es okay zu weinen. Du darfst weinen."

Er nimmt dir Taschentücher und schnäuzt hinein. Dann wischt er sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Seufzt und fixiert den Boden. Auch wenn Frau Fritscher meinte, dass es gut wäre und es ihm nicht peinlich seien sollte, so ist es ihm dennoch unangenehm.

Sie faltet ihre Hände ineinander und nimmt umklammert damit ihr rechtes Bein, welches sie über das Linke geschlagen hat. Neugierig sieht sie ihn an. Der Fall der Familie Schmitz nimmt sie mehr mit als ihr lieb ist. Und versucht ihnen so gut es geht zu helfen.

Für sie ist es nicht Leute zu sehen, denen etwas schreckliches geschehen ist. Jedoch liebt sie ihren Job.

„Es tut mir leid...",murmelt er.

Daraufhin erwidert sie: „Es muss dir doch nicht leid tun, Nick. Es ist normal zu weinen."

„Nein, nein das meine ich nicht."

Sie sieht ihn verwirrt an. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht vertraue. Ich weiß, mein Vater bezahlt eine Menge Geld um diese Sitzungen zu bezahlen. Aber ich kann das nicht. Ich kenne Sie nicht! Ich kann keinem Menschen Dinge anvertrauen, den ich nicht kenne. Es tut mir wirklich leid, aber das geht einfach nicht..."

Dr. Fritscher sieht ihn einige Sekunden sprachlos an. Sie kann ihn nicht einschätzen. Sie weiß so gut wie nichts über ihn. Weshalb sie Angst hat etwas falsches zu sagen, dass ihn dazu bringt ihr überhaupt nichts mehr zu sagen.

„Nick, ich bin dir doch nicht böse. Wirklich ich kann das total verstehen. Aber vielleicht...mh vielleicht sollte ich mal etwas über mich erzählen. Vielleicht fällt es dir dann leichter mir zu vertrauen."

Er zuckt nur mit den Schultern. Ihm ist ihr Leben eigentlich völlig egal. Auch wenn das böse klingt. Aber er hat eigene Probleme und muss sich nicht noch eine weitere Lebensgeschichte anhören.

„Also ich heiße Hannah Fritscher und bin dreißig Jahre alt und ähm habe einen Sohn namens Ben. Mein Freund, Silvio, ist gestorben, da war Ben zwei Jahre alt. Ich habe keinen wirklichen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Als Psychologin verdiene ich nicht schlecht. Dennoch ist das Geld ende es Monats knapp und Ben und ich können uns so gut wie keinen Urlaub leiste. Jedoch lieber so, als dass ich Ben nur im Urlaub sehen würde und sonst gar nicht. Ich weiß, Nick, das sagt nicht viel über mich aus und sorgt bestimmt nicht dafür, dass du mir vertraust. Aber ich werde eure Familie nicht aufgeben. Ihr seid eine tolle und starke Familie, die momentan wohl am Tiefpunkt angekommen ist. Aber glaub mir, es werden bessere Zeiten kommen und ich will nicht aufgeben euch dorthin zu verhelfen. Weil ich finde dass ihr es verdient! Nach allem was ihr durchgemacht habt, da habt ihr verdient wieder ein normales Leben zu führen."

„Ich weiß, dass Sie uns nur helfen wollen...aber es geht einfach nicht."

„Ich stelle dir einfach mal ein paar Fragen. Wenn dir diese Frage zu intim ist, dann heb einfach die Hand, okay?"

Eigentlich ist es ihm nicht recht. Aber er will auch nicht, dass sein Vater diese Stunden um sonst bezahlt. Also will er es versuchen. Nicht damit man ihm hilft. Sondern um seinem Vater das Gefühl zu geben, dass ihm geholfen wird. Damit sein Vater keine Schulgefühle mehr hat. Damit er keine Sorgen wegen ihm hat. Die hat er schon genug mit Michelle.

„Okay."

„Also noch mal, wie geht es dir?"

Er druckst herum. Muss schon mit sich kämpfen, nicht ein einfaches »okay« von sich zu geben. Er will ehrlich bleiben und es geht ihm nicht 'okay', ihm geht es schlecht. „Nicht gut."

„Was bedrückt dich?"

Er hebt automatisch die Hand. Dr. Fritscher seufzt. „Okay, wie ist dein Tag gewesen?"

„Schrecklich!"

„Wieso?"

Er zuckt mit den Schultern. Schaut sich in dem Raum um. Schaut alles an, nur nicht Dr. Fritscher. „Ich weiß-ich weiß es nicht. Ich weiß nicht was mit meinem Bruder los ist! Ich weiß nicht was mit Michelle los ist! Ich weiß überhaupt nichts mehr! Dann hat meine Mutter meinen Vater heute Morgen angerufen! Er- er hätte das nicht sagen dürfen! Er hat sie aus unserem Leben verband! Wir brauchen sie ! Michelle braucht sie! Sie hat sich gemeldet und das bedeutet wir sind ihr nicht egal! Aber was macht der Arsch! Schreit sie an. Sagt, dass sie nie wieder uns anrufen soll! Ja, sie hat uns im Stich gelassen! Aber wir brauchen sie nun mal!"

Er schreit. Sieht Dr. Fritscher wütend an, als wäre sie sein Vater. In seinen Augen haben sich schon wieder Tränen gebildet. Sein wütender Blick lässt Dr. Fritscher erschauern. Sie hat nicht damit gerechnet, dass Nick wirklich böse werden kann. Doch da hat sie sich gewaltig geirrt. Durch die vergangenen Ereignisse hat er gelernt, dass man manchmal nur so im Leben weiter kommt. Rücksichtslos. Egoistisch.

„Hast du mit deiner Mutter mal gesprochen, nachdem sie euch verlassen hat?"

Er schüttelt  den Kopf. Sein Blick geht ins Leere.

„Denkst du es würde etwas ändern?"'

„Ob es etwas ändern würde? Sicher würde es das! Würde es was ändern, wenn Sie wieder Kontakt mit ihren Eltern hätten?!"

Vierlinge Survival (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt